Block für Block gegen den Staat

Kryptowährungen und die Blockchain bringen Dezentralisierung und Anonymität. Gleichzeitig wollen viele damit den Staat abschaffen und mit radikalem Marktkapitalismus überschreiben.

von Florian Wüstholz (erschienen in megafon #431 (05/2018))

Alles beginnt mit den Luftmatratzen der Grossbanken. Im Verlauf des Jahres 2008 tun sich darin immer grössere Löcher auf. Irgendwann treiben einige nur noch mit Mühe und Not auf den Wellen des Meeres – heisse Luft entweicht schneller als sie wieder hineingeblasen werden kann. Manche gehen unter, andere sind «too big to sink» und werden mit Pumpen und Pflastern wieder einigermassen seetauglich gemacht.

Zur gleichen Zeit fragt sich Satoshi Nakamoto, ob das nicht besser geht. Diese ominöse japanische Nebelgestalt – bis heute weiss niemand, wer sich hinter dem Namen wirklich versteckt – will mit der Kryptowährung Bitcoin ein neues Finanzsystem erschaffen und damit den Zentralbanken die Macht über unser Geld entziehen. Auf die Idee folgt die Manifestation des Netzwerks am 3. Januar 2009 mit der Schöpfung der ersten 50 Coins.

Kryptografie und radikaler Datenschutz

Anfangs kommt Bitcoin vor allem bei sogenannten Cypherpunks an, die sich Kryptografie und radikalen Datenschutz auf die Fahnen schreiben. Dazu gehören Menschen wie Julian Assange und die Entwickler*innen des Tor Netzwerks. Die zunehmende staatliche Überwachung im Internet ist ihnen ein Dorn im Auge, den sie mit Verschlüsselung und einer Rückeroberung der Anonymität entfernen wollen. Da passt Bitcoin bestens ins Schema. Damit lassen sich Transaktionen beinahe anonym tätigen – eine Tatsache, die ursprünglich vor allem für den Erwerb illegaler Güter genutzt wird.

Wer mit Bitcoin oder einer von mittlerweile über 1000 anderen Kryptowährungen zahlen will, braucht zwar ein digitales Portemonnaie – eine Wallet. Doch von der Wallet alleine lässt sich nicht auf die Person schliessen, in deren Tasche es steckt. Dafür wäre zusätzliche Detektivarbeit nötig, die sich jedoch durch Verschlüsselung und Spurenverwischung erschweren liesse. Das macht Bitcoin im Endeffekt zu einem pseudonymen Zahlungssystem: Die virtuelle Adresse jeder Wallet dient bloss als Deckname der Besitzer*in.

Alle Transaktionen von einer Wallet auf eine andere werden auf der Blockchain vermerkt. Diese ist eine Art dezentralisiertes Logbuch aus einzelnen Blöcken, die aufeinander aufbauen. Mit zusätzlichen Mechanismen wird dabei verhindert, dass Einträge nachträglich verändert, gelöscht oder hinzugefügt werden. Denn wie bei einer Ankerkette wird jeder neue Block an die restlichen durch ein kryptografisches Verfahren geschweisst. Das Resultat: jeder Block baut auf der gesamten bisherigen Kette auf. Möchte jemand einen alten Eintrag manipulieren, ändert sich gleichzeitig der ganze Rest. Die Sache fällt auf und die so entstandene neue Kette wird vom Netzwerk abgelehnt.

Die Blockchain Technologie kommt auch bei all jenen gut an, die den Staat abschaffen wollen. Denn sie ermöglicht den freien Austausch von Geld und Dienstleistungen ohne Mittelsperson. Das dafür nötige Vertrauen entsteht bei Bitcoin nicht durch zentrale Geldinstitute. Denn diesen sei nicht zu trauen meint Nakamoto in einem kurzen Essay im Februar 2009: «Der Zentralbank muss vertraut werden, dass die Währung nicht entwertet wird. Doch die Geschichte von Fiatwährungen ist voll von solchen Vertrauensbrüchen.» Stattdessen ist ein egoistischer Urzustand am Werk. Jegliches Vertrauen ins System ist dezentralisiert. Die Blockchain ist völlig öffentlich und transparent, wodurch jede Person überprüfen kann, ob alles mit rechten Dingen zu und her gegangen ist.

Das Problem mit der Macht

So sieht die Fantasie aus. Die Evangelist*innen beschwören dabei ein gelobtes Land der entfesselten individuellen Freiheit herauf. Ein Phantasma, das kein staatliches Geldmonopol mehr benötigt. Ein Land, in dem die Macht aller äquivalent ist. Nur sind Menschen keine unbeschriebenen Blätter. Macht, Kaufkraft und Ressourcen sind bereits ungleich verteilt. Und daran ändert auch das Ausschalten der Mittelsperson nichts.

Tatsächlich ist das Machtgefälle bei Bitcoin enorm. So wird das Netzwerk nur dank der Arbeit sogenannter «Miner» am Laufen gehalten. Diese überall auf der Welt verteilten Rechner sorgen dafür, dass die Blockchain – und damit die «Buchhaltung» von Bitcoin – nicht nachträglich manipuliert werden kann. Damit ein neuer Block mit Transaktionen an die Blockchain gehängt werden darf, muss erst ein kryptografisches Problem gelöst werden. Das erfordert enorme Rechenleistung. Der erste Miner erhält jeweils eine Belohnung in Form von neuen Coins. Dieser sich stetig in die Höhe schraubende Wettbewerb soll dazu führen, dass niemand die alleinige Kontrolle an sich reissen kann. Kein Wunder frisst das ganze Netzwerk so viel Strom wie die Schweiz.

Die Macht über das Netzwerk und auch darüber, welche Transaktionen zu welchen Gebühren überhaupt verarbeitet werden, liegt damit in den Händen der Miner. Nur, einen solchen Rechner kann sich nur leisten, wer ohnehin schon über die nötigen finanziellen Mittel verfügt. Das bereits bestehende Machtgefälle wird also einfach virtuell reproduziert. Die User hängen zwar nicht mehr von Zentralbanken und ihren Finanzpumpen ab. Dafür sind sie jetzt einfach denjenigen Gruppen ausgeliefert, die am meisten Rechenleistung ins Bitcoin-Netzwerk einspeisen können.

Anarchokapitalismus auf Steroiden

Und da wäre noch die Spekulation. Denn was als Alternative zum ausser Kontrolle geratenen globalen Finanzsystem gedacht war, wurde in den letzten Jahren ganz einfach in dieses einverleibt. Dank Bitcoin, Ethereum oder Dash konnten immer mehr Spekulant*innen beinahe anonym und ohne Regulierung ihr Kapital in Windeseile vermehren. So stieg der Kurs von einem Bitcoin im letzten Jahr von ursprünglich rund 1000 US-Dollar auf knapp 20 000 kurz vor Weihnachten. Der feuchte Traum mancher Anarchokapitalist*innen wurde wahr.

In diesem Traum ist das Individuum der absolute Souverän. So schreibt der Ökonom Murray Rothbard, dass jeder Mensch «Eigentümer seiner selbst» sei. Freiheit ist hier negativ bestimmt: Als Absenz von Zwang und Einschränkung und nicht als Fähigkeit, sein eigenes Leben selbst zu bestimmen. Das drückt sich auch im neo-lockeanischen Eigentumsverständnis aus: «Falls jeder Mensch das Recht an seinem eigenen Körper hat und falls er Objekte der Natur benutzen und transformieren muss, um zu überleben, dann hat er das Recht, das von ihm geschaffene Produkt zu besitzen», schreibt Rothbard. Steuerabgaben als erzwungene Abgabe von erarbeitetem Eigentum gehören nicht in diesen Traum. Sicherlich hätten auch rechtslibertäre Geister ihre Freude daran.

Moralisch versucht sich dieser radikale Marktkapitalismus mit dem darunter liegende Nichtaggressionsprinzip zu legitimieren. Jeder Angriff auf den souveränen Körper eines anderen Menschen stelle eine Einschränkung der über allem stehenden Freiheit jeder Einzelnen dar. Das staatliche Gewaltmonopol gehört selbstredend ebenfalls dazu. Wenn es überhaupt so etwas wie Polizei, Militär oder Gerichte geben sollte, dann nur als freiwillig eingekaufte private Dienstleistung.

Intelligente Verträge statt Gesetze

Die Blockchain liefert die nötigen Tools, um diese Albtraum Realität werden zu lassen. Bitcoin deckt schliesslich bloss den finanziellen Aspekt der anarchokapitalistischen Revolution ab. Bereits heute lassen sich mit sogenannten «Smart Contracts» komplexe Verträge auf der Blockchain der Kryptowährung Ethereum implementieren.

Nehmen wir an, jemand will sich ein Mobilfunkabo kaufen. Dabei schliesst sie einen Vertrag mit einer Dienstleisterin ab. Dieser besagt, dass nach der Zahlung eines bestimmten Betrags eine bestimmte Leistung erfolgt. Der Vertrag wird durch Gesetze geregelt, die vom Staat festgelegt wurden und vor Gerichten durchgesetzt werden. Jede Menge Bürokratie und Mittelspersonen, die sich auch vom Tisch fegen liessen – alles unter dem Vorwand der gesteigerten Effizienz.

Mit einem Smart Contract ist das möglich. Alle möglichen Vertragsszenarien – Eröffnung, Bezahlung, Lieferung, Abschluss – werden einfach algorithmisch programmiert und dann auf der Blockchain abgelegt. Von da an führt sich der Vertrag von alleine aus. Jeden Monat wird die Abo-Gebühr automatisch abgebucht und der Algorithmus bestraft gleich selbst, sollte eine Dienstleistung nicht wie versprochen geliefert werden.

Überall trübes Wasser

Sind die Blockchain und Kryptowährungen also einfach die neusten Ausgeburten der rechtslibertären und anarchokapitalistischen Raubtiere? Wie immer ist die Sicht im trüben Wasser nicht ganz so klar. So drängen bereits wieder Grossbanken und Regierungen in die verloren geglaubte Welt, in der Hoffnung, diese zurückzuerobern. Sie programmieren ihre eigenen Blockchains und führen Regulierungen ein, um den Schleier der Anonymität wieder zu lüften.

Das ist nicht zwingend erfreulich. Schliesslich lassen sich auf die Blockchain auch weniger ausbeuterische Systeme aufpfropfen – Systeme in denen Anonymität vor dem Staat eine willkommene Sache ist. Manche alternativen Kryptowährungen wie zum Beispiel Faircoin sind basisdemokratisch organisiert und kontrolliert. Nicht die Miner und Spekulantinnen haben die Macht über das System, sondern alle, die sich an der Weiterentwicklung und der realwirtschaftlichen Anwendung beteiligen.

Auch demokratische Prozesse liessen sich mit der Blockchain neu denken und implementieren. Zum Beispiel liesse sich das partielle und flüssige Delegieren von Stimmen innerhalb einer «liquid democracy» mit einer Blockchain transparent und technisch sauber lösen. Jemand könnte seine demokratische Macht so lange an eine andere Person delegieren, bis diese das Vertrauen verliert oder mehr Interesse und Zeit fürs eigene Abstimmen vorhanden ist – und nicht nur in langen Abständen von Wahlen.

Dezentralisiert organisierte Energieversorgung ist ein weiteres Feld für eine nachhaltige und solidarische Anwendung der Blockchain. Kleinräumige Kreisläufe könnten transparent und effizient organisiert werden, wo staatliche Strukturen abwesend oder unerwünscht sind. Es wäre also ein Fehler, das technologische Feld dem radikalen Marktkapitalismus und den rechtslibertären Irrlichtern zu überlassen.