Auf dem Teller durch die Greina

Wie schmeckt der pechschwarze Schiefer des über der Greina thronenden Corói? Wie riecht der Wind, der von weit unten aus dem Bleniotal hinauf weht? Carla Kiefer lockt verborgene Geschmäcker aus Landschaftsbildern und zaubert diese auf den Teller.

von Florian Wüstholz (erschienen in Transhelvetica #44)

Ein Rotmilan schraubt sich beharrlich in die Höhe und pfeift gegen den Nieselregen an. Am Horizont kämpfen Wolkenformationen und werben um die Gunst der schwachen Sonne. Als wir am Waldrand von Schlieren ankommen, führt uns Carla Kiefer zielstrebig durchs Unterholz. Um den Charakter der moorigen Greina im Gericht einzufangen, will sie etwas Grünes und Naturnahes. Darum ist sie auf der Suche nach Moos. Gekocht schmeckt es erdig und leicht bitter und lässt sich mit Baumnüssen und Öl zu einem vollmundigen Pesto veredeln.

Die Köchin und Foodstylistin tüftelt oft mit wilden Kräutern und Pflanzen. Ihrer Neugier und Experimentierfreude sind dabei fast keine Grenzen gesetzt. Zwischen stäubenden Pilzen und Totholz wird sie schliesslich auf einem kleinen Baumstrunk fündig. Sie erntet eine Handvoll vom leuchtenden Grün und wir machen uns auf den Heimweg.

Der Geschmack der Landschaft

Im alten Haus surrt ein pastellfarbener Ofen vor sich hin und spendet Wärme. Antike Küchengeräte hängen an blauen Holzbalken. Wenn Carla Kiefer zwischen Küche und Entwurfstisch hin und her wandelt, knarrt der warme Holzboden. Federn, Baumnüsse, Stifte und Landschaftsbilder sind auf dem Tisch verstreut. Dazwischen liegt ein grosses Buch aufgeschlagen. Wie in einem Kochbuch sind Seiten markiert; sanfte Bleistiftnotizen stehen neben ausdrucksstarken Bildern aus der Greina. Ein verästelter Fluss schlängelt sich durch ein Meer aus rotem Gras. Dahinter blickt der eingepuderte Pizzo Corói über seine Ebene. Sanfte Herbstfarben spiegeln sich in einem kleinen See. Aus diesen Szenen will die frühere Theater- und Filmschaffende die geschmackliche Essenz extrahieren.

«Ich war ja noch nie in der Greina», gesteht sie, während sie das gesammelte Moos kocht und Baumnüsse hackt. Dieses Bekenntnis irritiert erst einmal. Wie will jemand eine Landschaft auf dem Teller zum Leben erwecken, deren Gras sie noch nie unter den Füssen spürte, gegen deren steifen Wind sie noch nie ankämpfen musste, in der sie noch nie das Wollgras überm Wasser tanzen sah? «Ich reise mehr im Kopf und auf der Zunge», erklärt sie sich. Sie lässt die Farben der Bilder auf sich wirken, studiert Oberflächen, recherchiert über den Säuregehalt des Bodens, die geologischen Gegebenheiten. Sie vertieft sich und dringt bis ins Erdreich vor.

Mit der Polenta in die Erdschichten

Langsam breitet sich der Geruch von Holzofenbrot in der Küche aus. Carla Kiefer macht sich an den ersten Gang, den sie wie eine Geologin aufschichtet. Vom Untergrund her arbeitet sie sich systematisch gen Himmel. Das getoastete Brot ist dabei wie der Gneis, der der Greina ihren Boden gibt. Darüber breitet sich eine sanfte Mooscrème wie ein Teppich weicher Auen aus. Mit ihren feinen Händen arbeitet sie methodisch und präzis; jedes Öltröpfchen hat seinen Platz. Die Vollendung kommt in Form eines schwebenden Wölkchens aus Chicoréeschaum. Ein Hauch von Bitterkeit und fast unbemerkbar auf der Zunge. «Das zieht mich geschmacklich hoch in die Lüfte», erläutert sie mit sanfter Stimme und nach langem Überlegen. Beim Hineinbeissen weht ein zarter Maronihauch vom Tal hinauf. Das Tessin ist zum Schmecken nah.

Die Erinnerung an Kastanienwälder klingt im Gaumen noch nach, als der liebliche Geruch von Zimt bereits die Küche erfüllt. In ihrer lachsfarbenen Kochschürze steht Carla Kiefer vor dem Herd und rührt unentwegt in einem Topf mit blubbernder Polenta. Wenn sie die Bildvorlagen aus der Greina betrachtet, sieht sie immer auch «wilde und ungewöhnliche Komponenten». Auch einen Hauch Exotik entdeckt sie, als ob sie nicht mehr sicher sei, noch in der Schweiz zu sein. Darum versteckt sie im bodenständigen Mais und vertrauten Apfelmus die unerwarteten Noten von Zimt, Kurkuma und Pfeffer.

Wie kommt man auf diese Ideen? «Ich lasse das Bild auf der Zunge jonglieren», beschreibt sie ihr Vorgehen. Im Kopf geht sie ihr Geschmacksrepertoire durch, öffnet gedankliche Schubladen, zieht einen Geruch hervor, lässt ihn wirken und vergleicht mit der visuellen Grundlage. Es ist eine Mischung aus Intuition und akribischer Geschmacksalchemie. Dann überlegt sie sich, wie sie die Geschmäcker auf dem Teller arrangieren will und verwandelt eisige Bergbäche in knackige Erbsenspargeln.

Der etwas andere Blick

Meistens liegt beim Wandern das Sichtbare im Fokus. Wer aber eine Landschaft in ein Menü transformieren will, schärft nebst dem Blick unweigerlich die Nase und den Gaumen. Wie schmeckt wohl die Einsamkeit auf dem Passo della Greina im Herbst? Wie riecht das Rieseln des Schieferbruchs unterhalb des Piz Terri? Welchen Biss hat das sprudelnde Bächlein? Beim Hauptgang beantworten sich manche dieser Fragen. Der saure Boden des Hochmoors wird zur Linsensauce mit Balsamico Bianco. «Die Polenta zieht hinunter in die Erdschichten», erklärt Carla Kiefer. Und das japanische Paniermehl fühlt sich auf der Zunge wie knirschende Schritte über eine dünne Schicht gefrorenen Neuschnee an. Im Mund macht sich eine herbe Süsse breit. Vor dem inneren Auge breitet sich die wilde Tundra aus.

Zum Abschluss reisen wir nochmals quer durch die Greina: Vom Muot la Greina am verschneiten Corói vorbei hinab zum Lago di Luzzone. Zwei Kugeln Kakieis aus getrockneten Tessiner Früchten liegen unscheinbar wie die Ebene da. Darüber residiert eine dunkelbraune Dörrbirne. Wie Frau Holle bepinselt Carla Kiefer die Spitzen mit geschmolzener weisser Schokolade. Das Eis zergeht mit einem Hauch von Süden auf der Zunge. Die Süsse, das Exotische, ist hier oben wieder nur angedeutet. Einen dramatischeren Geschmacksauftritt legt die Birne hin. Sie ist wie die Erinnerung an einen kurzen, aber intensiven Sommer mit Kuhgebimmel und kreisenden Steinadlern. So sinke ich im Teller ins weiche Gras der Hochmoore ein. In mir lüftet sich ein Vorhang und ich verliere mich im Geschmack und im Gefühl der weit entfernten Greina.