Bis die App klingelt

Sie radeln täglich bis zu hundert Kilometer durch die Stadt. Liefern Essen, Laborproben und verlorene Schlüsselbunde. Und werden dabei von Algorithmen und Apps gesteuert. Unterwegs mit drei Velokurieren.

von Florian Wüstholz (erschienen in Surprise #489)

Jeden Tag um 11 beginnt die Primetime. Dann melden sich die Mägen in den Büros der Stadt. Und dann steigt Simon* in Zürich Altstetten auf das E-Bike, auf dem Rücken einen grossen, orangen, würfelförmigen Rucksack. Er verbindet sein Smartphone mit der Powerbank in der Jackentasche und startet Scoober – eine «Shift Planner»-App, die Kurierfahrer*innen die Arbeit einteilt.

Simon ist 29, Velokurier, bereits während des Studiums fuhr er für ein Kurier-Startup. Mittlerweile arbeitet er für Eat.ch und versorgt in den nächsten zwei Stunden die Menschen in Zürich mit geliefertem Essen. Nachdem er sich in der App als verfügbar markiert hat, wartet er. Nach ein paar Minuten klingelt die App, ein Lieferauftrag erscheint auf Simons Display. Die App zeigt ihm den Weg zum Restaurant und die voraussichtliche Ankunftszeit an. «Wir Velokuriere sind wie kleine Drohnen, vom Algorithmus gesteuert», sagt Simon.

Handschuhe anziehen, losfahren. Nach wenigen Minuten kommen wir beim Restaurant an der Langstrasse an. Absteigen, abschliessen, Maske auf. Doch das Essen ist noch nicht bereit – eine Verwechslung in der Küche. Also zückt Simon sein Handy. Neben ihm steht ein weiterer Velokurier und wartet ebenfalls auf eine Lieferung, das Handy in der Hand. «So sehen wir Velokuriere beim Warten aus», witzelt Simon. «Das Smartphone in der Hand, das Kabel geht zur Powerbank in der Jackentasche.» Simon ist bei der Arbeit die ganze Zeit per GPS überwacht. Das zehrt am Akku. Die App – und damit Eat.ch – weiss jederzeit genau, wo er sich befindet. Ist er zur Kundin unterwegs, erhält diese eine SMS: «Ihre Bestellung wurde dem Kurier übergeben. Verfolgen Sie die Bestellung hier.» «Ich fühle mich schon ziemlich überwacht», meint Simon. «Aber gleichzeitig habe ich auch den Eindruck, dass es völlig egal ist, wenn ich mal zu spät komme oder nach erfolgter Lieferung noch ein paar Minuten Pause mache, bevor ich der App die Lieferung bestätige.»

Keine Kontaktperson erreichbar

Diese Intransparenz ist typisch für die per Algorithmus gesteuerten Velokurier*innen bei Eat.ch oder Uber Eats. Es gibt keine Kontaktperson. Wie Aufträge verteilt werden, ist völlig unklar. Und was für Auswirkungen effizientes oder schludriges Arbeiten hat, weiss niemand. «Der eigentliche Chef ist der Algorithmus», sagt Simon. Dabei hat er einigermassen Glück – bei Eat.ch hat er einen Monatsvertrag, erhält Fahrrad und Ausrüstung, ist versichert. «Aber wir Kuriere dürfen pro Woche höchstens zehn Stunden arbeiten.» Der genaue Grund dafür ist unklar. Weil aber die meisten Menschen über Mittag und am Abend Essen bestellen, käme man ohnehin nicht auf eine volle Arbeitswoche. «So verdiene ich 1000 Franken im Monat.»

Ganz anders geht es Keynan*. Er sitzt auf einer Mauer an der Aarbergergasse in Bern, raucht und wartet auf den nächsten Auftrag. Der 32-Jährige kommt aus Somalia und arbeitet für Uber Eats. Wobei das nicht wirklich stimmt, denn Uber Eats will partout kein Arbeitgeber sein. So schreibt zum Beispiel SRF: «Der Tech-Gigant Uber kämpft mit seinen Vermittlungsdiensten weltweit rechtlich dagegen an, in irgendeiner Form als Arbeitgeber eingestuft zu werden – mit allen Verpflichtungen und Rechten.» Offiziell bietet Uber Eats nur eine digitale Plattform an. Wären die Kurier*innen fest angestellt, würde das angeblich einen Flexibilitätsverlust bedeuten. Das Beispiel von Simon zeigt aber, dass er als Angestellter genauso flexibel ist wie ein Uber-Eats-Kurier.

«Das System ist willkürlich, intransparent und unvorhersehbar», sagt Keynan. Seit etwa Mai fährt er für Uber Eats und trägt dabei das gesamte Risiko auf den eigenen Schultern. Er braucht ein eigenes Velo und eine Versicherung. Geht etwas schief, bleibt es an ihm hängen. «Bei Schnee fahre ich nicht, das ist mir zu gefährlich», sagt er. Bezahlt wird er nur für den Weg vom Restaurant zur Kundin. Hinund Rückweg werden nicht verrechnet. Kein Wunder, warten er und die anderen Kurier*innen für Uber Eats an der Aarbergergasse, denn hier sind die meisten Restaurants.

Diese Scheinselbständigkeit und die prekären Arbeitsbedingungen sind auch der Gewerkschaft Syndicom ein Dorn im Auge. Das Geschäftsmodell von Uber fördere die Prekarisierung in der gesamten Branche. Und weil Kurierleistungen ein riesiges Wachstum verzeichnen, betrifft das immer mehr Menschen. Wenigstens im Kanton Genf gilt Uber Eats mittlerweile gesetzlich als Arbeitgeber und muss damit Sozialleistungen bezahlen und Arbeitsverträge ausstellen. Das entsprechende Urteil geht aus einem Vorstoss der Genfer Regierung hervor, gegen den sich Uber Eats erfolglos gewehrt hat.

Essen wegwerfen geht schneller

In Bern ist das noch nicht so. So verdient Keynan pro Stunde etwa zehn Franken. Wer nicht jeden Auftrag annimmt und in den Stosszeiten arbeitet, kommt kaum über die Runden. Trotzdem fährt Keynan jeden Tag fast hundert Kilometer. Immer aus der Innenstadt in die Quartiere und wieder zurück. Alles wird von der UberEats-App gesteuert, die ihn den ganzen Tag herumkommandiert. Bei einem Problem – wenn etwa die Hausnummer fehlt oder das falsche Essen zubereitet wurde – könnte er sich an eine Supportnummer wenden. Doch die sitzt irgendwo im Ausland, minutenlange Warteschleife am Telefon inbegriffen. «Am Ende können die sowieso nichts machen», sagt Keynan. «Manchmal werfe ich dann das Essen einfach weg. Eine Verschwendung, aber was will ich machen.» Es geht schneller. «Warten kostet Geld.»

Eine Viertelstunde plaudern wir, immer wieder fahren andere Kurier*innen vorbei. Irgendwann hat er ausgeraucht. Und dann endlich vibriert Keynans Smartphone. Er zieht den Lieferrucksack an und tritt in die Pedale.

«Velo drei», sagt Tyler Mangold ins Funkgerät an seinem Rucksack. «Ja, Tyler», kommt die Bestätigung aus der Zentrale des Velokurier Bern. «Ich bin jetzt wieder leer an der Könizstrasse», meldet Tyler zurück. «Ok, gib mir einen Moment», rauscht es zurück. Der 33-jährige Tyler fährt seit acht Jahren für den Velokurier Bern – eine Genossenschaft, bei der alle siebzig Kurier*innen gleich viel verdienen: rund 22 Franken netto in der Stunde. Nicht viel, aber anständig. Und vor allem arbeiten hier alle als Team zusammen: Die Disponent*innen verteilen die Aufträge, lotsen die Fahrer*innen durch die Stadt und durch den Tag. Über einen offenen Funk sind alle miteinander verbunden. «Radio Velokurier Bern», scherzt ein Kurier am Esstisch, wo sich die Kurier*innen zwischen und nach ihren Schichten für den sozialen Austausch treffen. Geht etwas schief, kann schnell Unterstützung angefordert werden. Irgendjemand ist meist in der Nähe und kann zum Beispiel ein dringendes Päckchen mit Laborproben übernehmen. «Ich bin gerne den ganzen Tag auf dem Velo», sagt Tyler. «Manchmal komme ich in einen Flow, wenn die Aufträge gut verteilt sind und ich von einem Ort zum anderen düsen kann.» Tyler ist, wie viele andere der Truppe, Velokurier mit Herzblut. Sein Lastenvelo hat er selbst zusammengebaut, er kennt jedes Gässchen, jede geheime Abkürzung.

«Zeit ist unser Kapital», erklärt Tyler. «Wir unterstützen uns gegenseitig im Team, damit alles reibungslos funktioniert.» Wenn eine Lieferung innert dreissig Minuten bei der Kundin sein muss, müsse man teilweise an die eigenen körperlichen Grenzen gehen, insbesondere bei schlechtem Wetter. Wenn Tyler auf eine Lieferung wartet, die mit dem Zug kommt, dreht er sich am Bahnhof eine Zigarette, füllt ein paar Frachtenscheine aus und schaut vielleicht aufs Handy. «Im Winter ist es hier manchmal verdammt kalt und windig», meint Tyler. «Da schauen wir, dass wir irgendwie warm bleiben können.» Mit den Jahren haben die Kurier*innen des Velokurier Bern ein Netz mit Partner*innen aufgebaut und wissen, wo sie schnell einen Kaffee trinken oder sich auf einer Heizung den Hintern wärmen können.

Während wir über die Lorrainebrücke fahren, entdecke ich zwei Vogelfedern an seiner Satteltasche. «Ein Glücksbringer?», frage ich. «Ach, die», lacht Tyler. «Die hat mir mein Sohn da angemacht, in einer ruhigen Minute.» Und saust davon.

* Namen geändert