Erweiterter Polizeiblick

Eine Polizistin patrouilliert mit einer klobigen Brille durch den Berner Bahnhof. In ihrem Gesichtsfeld leuchtet etwas auf, daneben erscheint in einem Kasten ein detaillierter Steckbrief. Zielstrebig geht die Polizistin auf eine wartende Person zu, kontrolliert deren Personalien und durchsucht den Körper. Die Polizistin wusste von Anfang an, dass sie eine vorbestrafte Person vor sich hatte. Denn ihre Brille markierte den Menschen in der Menge und ergänzte das Ganze mit relevanten Informationen: Name, Bild, Vorstrafen, Kompliz*innen. Was vor einigen Jahren noch wie ein abstruses Szenario aus der Fernsehserie «Black Mirror» wirkte, ist leider immer weniger abwegig.

Die Zauberwörter in dieser dystopischen Zukunft heissen Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR). Bereits heute lassen sich mit einer Smartphonekamera und einfachen Apps in Windeseile chinesische Strassenschilder übersetzen, Gesichter erkennen und die dazugehörigen Informationen aus einer Datenbank abrufen oder zum Spass Pokémon auf dem Bundesplatz fangen. In der Wintersession durften dann auch Nationalrät*innen das Potential von AR kennenlernen. Ausgerüstet mit einer von Microsoft entwickelten Brille reichte ein Blick ins Gesicht des Gegenübers, um Name und Parteizügehörigkeit zu ermitteln. Die nötige Software liefert die Schweizer Firma Cubera aus Feldmeilen am Zürichsee. Das hört sich bisher ziemlich harmlos an. Doch mit der entsprechenden Datenbank liessen sich auch ganz andere Informationen ermitteln und anzeigen.

Den Blick auf die Welt verbessern

Vor allem für die Polizei und Grenzschutz sind VR und AR interessant. Denn damit eröffnet sich ein farbenprächtiges Spektrum neuer Möglichkeiten zur Überwachung und Kontrolle. Kein Wunder gab das FBI bereits vor fünfzehn Jahren eine Studie zum Potential von AR in Auftrag. Unter dem Titel «Unseren Blick auf die Welt verbessern» wird darin die volle Bandbreite von Anwendungsbereichen skizziert. Es liest sich wie eine Anleitung für den Überwachungsstaat der Zukunft: Echtzeitübersetzung von Wort und Schrift, Informationen über die Umgebung, sowie über Personen und Polizist*innen im Einsatz, chemische und biologische Sensoren, die die Wahrnehmung verbessern, Abhör- und Überwachungstechnologie, Wärmebildkameras oder die Steuerung von Robotern und Drohnen. Viele dieser Puzzleteile sind bereits einsatzfähig, es fehlt bloss noch an der Verflechtung.

Wer nicht vom Hype mitgerissen wird, dem springen die rechtlichen und gesellschaftlichen Probleme sofort ins Auge. Vor allem liessen sich mit einer ausgereiften AR-Brille Menschen in der Öffentlichkeit einfacher und unauffälliger überwachen. Die Identität und Vergangenheit einer Person liesse sich quasi im Vorbeigehen unbemerkt feststellen. «Gesichts- und Stimmerkennung sowie weitere biometrische Daten von bekannten Kriminellen könnten es Beamten ermöglichen, gesuchte Personen bloss durch Beobachtung auf der Strasse zu identifizieren», prognostiziert die Studie entsprechend. Vor dem Stadion genügt ein tiefer Blick in die Augen, um über Name, Wohnort oder Vorstrafen informiert zu werden. Und an der Grenze könnten Menschen noch effizienter herausgefischt werden. Auch die Identifizierung von Demonstrierenden oder politischen Aktivist*innen liesse sich mit hinreichenden Datenbanken ermitteln.

Es braucht nur einen kleinen Schritt

Noch wird die erweiterte Realität bloss in ihrer vermeintlich harmlosen und gesellschaftlich erwünschten Variante angewandt: zur schnellen Aufklärung von Verbrechen. In diesem Kontext wurde Ende Oktober 2017 an einem Polizeitag des Historischen Museums Luzern demonstriert, wie Tatorte mittels 3D-Scanning und AR gesichert und dokumentiert werden können. Die Brille auf dem Kopf der Polizist*in produziert ein 3D-Modell des Tatorts, welches mit einfachen Handgesten annotiert und strukturiert werden kann. Dies soll eine grössere Objektivität und Reproduzierbarkeit sicherstellen. So erklärt Nick Lyall von der Britischen Bedfordshire Police, dass AR «die Aufnahme von Beweismaterial in situ ermögliche. Dieses wird dann im 3D-Raum abgespeichert und kann später genau so betrachtet werden, wie es ursprünglich war.»

Doch von dieser unverfänglichen Anwendung ist es kleiner Schritt zur Dystopie. So ist der IT-Rechtsanwalt Martin Steiger überzeugt, dass «diese Überwachung im öffentlichen Raum schon bald Realität werden wird». Denn das Amalgam aus technischer Möglichkeit und wahrgenommener Bedrohung führt unter dem Deckmantel der gesellschaftlichen Sicherheit mitunter schnell zur verbreiteten Anwendung. Das liess sich nicht zuletzt beim im September 2017 in Kraft getretenen neuen Nachrichtendienstgesetz beobachten. Der Tag, an dem das fiktive Eingangsszenario Realität wird, ist womöglich näher als geahnt und eine politische Diskussion überfällig.

Dieser Artikel wurde im megafon Nr. 428 (02/2018) veröffentlicht. Die Illustration stammt von jmj.