Im öffentlichen Verkehr wird fleissig an der Digitalisierung getüftelt. Heikle Fragen werden gerne unter den Teppich gekehrt.
Es ist eine bitterkalte Nacht Anfang Dezember. In Bern macht sich ein neuer Doppelstockzug von Stadler Rail medienwirksam auf die Reise nach Olten. Mit an Bord sind sämtliche hohen Tiere der Branche und erklären den technologischen Durchbruch. Denn der Zug wird nicht mehr von einer LokführerIn gebremst und beschleunigt. Diese Aufgaben übernimmt ein automatisiertes System, welches die Geschwindigkeit selbstständig anpassen und optimieren kann. Die LokführerIn hat nur noch eine überwachende Funktion. Damit ist der erste Schritt zum vollautomatischen Zug gemacht.
Derweil schlafen in Sion die beiden Shuttles «Tourbillon» und «Valère» in ihrem Depot. Denn am nächsten Morgen stehen die beiden Busse frisch aufgeladen wieder in der Sittener Altstadt im Einsatz. Seit zwei Jahren kurven sie hier für die Postauto AG teilautonom durch die Gassen. Ein Pilotprojekt, das gerade erst kürzlich verlängert und ausgeweitet wurde. Noch überwacht eine PilotIn die Fahrt und greift im Notfall ein. Doch auch das soll sich in Zukunft ändern, damit Menschen per ÖV in jedem Tal und jedem Städtchen bis vor die Haustüre gondeln können.
SBB und Postauto sehen sich unter Druck. Denn im Ausland wird vielerorts an Alternativen zum öffentlichen Verkehr getüftelt. «Die Mobilität verändert sich», erklärt Jürg Michel von Postauto. Für den Projektleiter der Sittener «SmartShuttles» ist es entscheidend, den Fortschritt eigenhändig voranzutreiben. Denn man fürchtet sich vor neuen Anbietern wie Uber, Tesla oder Google. Auf keinen Fall will man von deren selbstfahrenden Autos ausgespielt werden und die Entwicklung verpassen. «Es gibt neue Anbieter und viele dringen dabei auch in den Bereich des ÖV ein», begründet Michel.
Bei der SBB sieht man das ähnlich. «Wir brauchen die Automatisierung, um die Eisenbahn starkzuhalten», verdeutlicht SBB-Chef Andreas Meyer im Rahmen der Medienfahrt die Strategie. Das Ziel sei dabei nicht, Personal einzusparen. Denn die automatische Fahrt sei noch weit von der Autonomie entfernt. Zudem werde es auch in Zukunft Personal im Zug benötigen, um im Störungsfall einzugreifen. Stattdessen soll die Kapazität auf der Schiene erhöht werden. Durch eine zentrale Steuerung der Abstände und Geschwindigkeiten der einzelnen Züge könnten womöglich bald 30% mehr Passagiere transportiert werden.
Der Dynamik der Digitalisierung stehen die Unternehmen dabei erstaunlich fatalistisch gegenüber. Man vergleicht sie mit einem Naturgesetz, das es schlicht zu akzeptieren gilt. Entsprechend rolle die Automatisierung unaufhaltsam über die Welt. Darum sei es wichtig, rechtzeitig auf den Zug aufzuspringen, um nicht abgehängt zu werden. Der Soziologe Florian Butollo der Universität Basel hält diese Einstellung für problematisch. «Technologieentwicklung muss als etwas Verhandelbares verstanden werden», argumentiert er. Es dürfe nicht sein, dass von Unternehmen Fakten geschaffen werden, die dann von der Gesellschaft ausgebadet werden müssen.
Unternehmen präsentieren die Digitalisierung gerne als Überlebenskampf, als bleibe gar nichts anderes übrig, als sich dem Druck zu beugen und mitzumachen. Doch mit der Optimierung der verschiedenen Prozesse lockt auch ein grösserer Profit. Es gibt also durchaus ein Interesse, in die Automatisierung zu investieren. Gleichzeitig bleiben Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse am Gemeinwohl hängen. Darum blicken Gewerkschaften mit Sorge in die Zukunft. Denn auch hier wird die Digitalisierung als etwas Unaufhaltsames empfunden. Doch plädiert Daniela Lehmann vom SEV dafür, dass es «eine gesamtgesellschaftliche Umverteilung der Gewinne geben müsse, die durch die Digitalisierung erreicht werden».
Wie das genau aussehen könnte, weiss jedoch niemand. Ein bedingungsloses Grundeinkommen erwähnt man nur im Flüsterton, denn die Finanzierung wäre alles andere als klar. Im Kanton Genf will man es vorerst mit einer Sondersteuer versuchen. Der Gesetzesentwurf sieht vor, Selbstbedienungskassen pauschal zu besteuern und dieses Geld in sozialpolitische Projekte zu investieren. Butollo ist skeptisch. Solche Massnahmen bremsen vielleicht die Entwicklung, lösen aber alleine noch nicht die grundlegenderen Probleme.
Viele Menschen treibt die Angst vor der Arbeitslosigkeit um. Denn technologische Revolutionen gingen in der Vergangenheit oft mit einer radikalen Transformation des Arbeitsmarktes einher. Die Gefahr besteht, dass signifikante Teile der Gesellschaft auf der Strecke bleiben. Gleichzeitig ist man sich einig, dass es im öffentlichen Verkehr auch in Zukunft noch Menschen brauchen wird. So meint Daniela Lehmann: «Das System wird nie völlig autonom funktionieren. Es braucht überall Menschen, die eingreifen können.» Auch Andreas Meyer winkt ab. In Zukunft werde es «auf jeden Fall» weiterhin Personal brauchen, welche im Zug sofort eingreifen können.
Die schwierige Frage ist, wie neue Berufsbilder aussehen und ob es gelingt, bestehende ArbeitnehmerInnen durch Weiterbildung und Umschulung darauf vorzubereiten. Die Analogie des «Liftboys» wird von BefürworterInnen der Automatisierung gerne zur Hand genommen. Zwar gäbe es heute kaum mehr Liftpersonal, doch im Gegenzug unzählige Menschen, die im Liftbau und im Service arbeiten. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich im Buchdruck beobachten. Dieser findet heute hochgradig automatisiert statt. Stattdessen gibt es heute Webdesigner und Programmierinnen. Die neu entstandenen Berufe haben also den Jobschwund locker aufgefangen.
Butollo erläutert, dass es sich hierbei um eine Verschiebung zu neuen gleichwertigen Berufsfeldern handelt. «Man kann nicht pauschal sagen, dass gute Jobs weggefallen und schlechte entstanden sind. Sie sind einfach anders», analysiert er. Das könnte hoffnungsvoll stimmen. Doch gleichzeitig beobachtet er auch eine andere Entwicklung. Im industriellen Sektor polarisiert sich die Arbeit mitunter in qualifizierte Facharbeit und Einfacharbeit in der Logistik; in «lovely and lousy jobs», wie es die Soziologen Maarten Goos und Alan Manning in einer Studie bezeichneten. Ob es im öffentlichen Verkehr auch so kommen wird, lässt sich schwierig prognostizieren. Denn die konkrete Entwicklung der Digitalisierung sei «sehr standortabhängig», meint Butollo.
Jürg Michel glaubt nicht daran, dass sich das Berufsfeld der BuschauffeurIn in nächster Zeit gross verändert. Denn die Shuttles in Sion sollen die regulären Busse gar nicht ersetzen. Vielmehr geht es darum, neue Märkte und Bedürfnisse zu schaffen. Autonome Busse seien «eine Ergänzung zum gesamten Netz. Wir möchten den ÖV als Gesamtes stärken.» Die gesellschaftlichen und ökologischen Kosten einer solchen Stärkung fliessen jedoch nicht in die Rechnung mit ein.
«Die Digitalisierung ist ein absolutes Wachstumsprogramm, als ob es kein Morgen gäbe», meint darum auch Butollo. Technologische Fortschritte und versprochene Quantensprünge verschleiern dabei gerne die tatsächlichen Auswirkungen. «Diese Entwicklung folgt der Wachstumslogik und kennt deshalb auch keine ökologischen Grenzen», legt Butollo nach. Bei neuen Mobilitätsangeboten stellt beispielsweise niemand die Frage, ob diese im Endeffekt zu einer nachhaltigen Gesellschaft führen. Und nicht zuletzt wird Nachhaltigkeit auf den lokalen CO2-Ausstoss reduziert, ohne dass Probleme in der Herstellung oder die Gefahr eines Reboundeffekts in Betracht gezogen werden.
Statt sich bloss mit der technologischen Machbarkeit zu befassen, wäre es wichtig, sich intensiv mit den verknüpften Problemen zu befassen. Die Digitalisierung ist bereits in vollem Gang, während die gesellschaftliche Debatte noch im Halbschlaf schlummert. Es genügt nicht, in den Feuilletons über ethische Dilemmas von selbstfahrenden Autos zu diskutieren. Stattdessen muss der Diskurs einen Weg in die Politik finden. Hierbei könnte sich das Rechnen mit Arbeitsplätzen als nebensächlich erweisen. Denn «der Kapitalismus will immer neue Arbeit in Wert setzen und neue Bedürfnisse kreieren. Es ist undenkbar, dass der Gesellschaft die Arbeit ausgeht», prognostiziert Butollo. Darum braucht es viel eher eine Debatte über die Art der Arbeit in der Zukunft.
Dieser Artikel wurde im Dezember 2017 auf infosperber veröffentlicht. Das Bild stammt von der SBB.