Virtuelle Realität soll neue Dimensionen des Lernens eröffnen – auch in der Sozialen Arbeit. Aber was lernen Studierende in Beratungsgesprächen mit Avataren, der simulierten Klientel in der virtuellen Welt?
Salome sitzt lächelnd und doch schüchtern auf einem roten Sofa im Jugendhaus. An der Wand hinter ihr hängt ein Plakat mit dem Slogan «Stopp Gewalt an Mädchen». Sofort beginnt sie zu plaudern: «Cooles Büro, sogar mit Töggelikasten.» Doch Salome ist nicht echt; sie ist ein Avatar in einer virtuellen Welt. Trotzdem sehe ich sie bildlich vor mir. Drehe ich den Kopf, kann ich jeden Winkel des Büros erkunden, während Salome in meinem Augenwinkel weitererzählt. Alles dank einer klobigen Brille auf meinem Kopf, die mich komplett vereinnahmt und von der realen Umgebung abschottet.
Tatsächlich findet das Gespräch in einem Labor der Berner Fachhochschule statt. Dort wird am Departement Soziale Arbeit seit bald zwei Jahren das Potenzial von Virtueller Realität (VR) für die Lehre erkundet. Im Rahmen eines Moduls über Interaktion und Kommunikation führen die Studierenden dabei auch ein Beratungsgespräch mit einem Avatar.
«Wir wollen uns mit der Thematik und den Möglichkeiten von Virtual Reality kritisch auseinandersetzen», erklärt Manuel Bachmann, Dozent für Psychologie und Teil des VR-Teams, die Motivation. «Wir verstehen es als Pflicht, den Einsatz gut zu prüfen und uns richtig zu informieren.» Das sei insbesondere im Bereich der Sozialen Arbeit sehr wichtig. Immerhin geht es hier um echte Beziehungen und Zwischenmenschliches. «Es muss gefragt werden: Wo ist die Technologie sinnvoll, wo nicht sinnvoll?»
In virtuellen Welten zu lernen, ist ein veritabler Boom. Im Primarschulalter könnten damit Dinosaurier erlebt werden, und in der Oberstufe winkt ein Ausflug ins antike Griechenland. Auch für komplizierte medizinische Eingriffe wird an virtuellen Lernumgebungen getüftelt. So liesse sich zum Beispiel eine riskante Herzoperation in der virtuellen Realität immer und immer wieder gefahrlos üben.
Die verschiedenen Vorteile von Virtual Reality stehen im Vordergrund. Die Immersion – so der Fachbegriff für das Eintauchen in die virtuelle Welt – helfe den Lernenden beispielsweise, Informationen leichter zu verarbeiten. «Man taucht wirklich in eine Situation ein und reagiert sehr ähnlich wie in der Realität», weiss auch Esther Abplanalp, Dozentin für Soziale Arbeit und Verantwortliche für das Modul. «Zudem erlaubt VR, dass sich die Studierenden in einer geschützten Situation selbst erfahren können.»
Ein weiterer Vorteil von VR ist die Möglichkeit, in gefährlichen Umgebungen zu üben oder ganz und gar unmögliche Situationen zu erleben. «Mit VR kann man Dinge machen, die sonst nicht möglich sind», sagt Bachmann. Man könne zum Beispiel ein Beratungsgespräch mit einem virtuellen Doppelgänger führen oder in der Sicherheit des Labors mit den eigenen Ängsten virtuell konfrontiert werden.
An der Berner Fachhochschule sind das bis jetzt noch Zukunftsszenarien. Das Beratungsgespräch mit Salome wirkt eher mechanisch, denn es folgt einem strikt vorprogrammierten Ablauf. Salome spricht kurz, dann ist die Studentin dran. So geht es ein paarmal hin und her. Salome reagiert dabei nicht auf die Antworten oder Fragen der Studierenden. «Was wir hier haben, ist natürlich kein echtes Gespräch», gibt Bachmann zu. «Es ist keine natürliche Interaktion. Salome liefert virtuelle Reize, die bei den Studierenden eine Reaktion auslösen sollen.»
Das Ziel der Übung: den eigenen Beratungsstil besser kennenzulernen. Wenn die sich Avatare immer gleich verhalten, trete dieser besonders deutlich zutage. «Das Interessante an der Übung sind die Unterschiede zwischen den Reaktionen der Studierenden», erläutert Bachmann, und Abplanalp ergänzt: «Der individuelle Beratungsstil, die Kompetenzen und Stressmuster zeigen sich sehr viel deutlicher, wenn der Avatar immer das Gleiche tut.»
Anschliessend analysieren die Studierenden in kleinen Gruppen anhand von Videoaufnahmen die virtuellen Beratungsgespräche. «Das Lernen ist erst komplett, wenn die Analyse innerhalb der Gruppen stattgefunden hat», erläutert Bachmann. Im VR-Labor werde das Material hergestellt. Damit können die Studierenden miteinander etwas über ihr eigenes Verhalten lernen. Sie diskutieren über die Art, wie sie die Probleme einer Klientin zusammenfassen, welche Fragen sie stellen, ob sie eher forsch oder zurückhaltend agieren. Das diene der Selbstreflexion und fördere eine aktive Feedbackkultur. In diesen Gesprächen und den Videos sähen sich die Studierenden quasi «nackt» in einem Beratungsgespräch. Alle äusseren Faktoren wurden entfernt. Es gibt keine Schauspielerin, die immer etwas anders reagiert, keine störenden Geräusche oder Mitstudierenden, die kritisch aus der Ecke zuschauen.
Herr Germann sitzt an einem Tisch, das Radio ist laut, das Fenster offen. Eine Studentin in Arbeitskleidung betritt mit ihrer Studienkollegin den Raum. Sie setzt sich zu Herrn Germann und begrüsst ihn. Er antwortet zögerlich, langsam, sucht Worte und Sätze, denn er leidet unter einer Wortfindungsstörung und ist rechtsseitig gelähmt. Die Aufgabe der Studentin: Sie muss abklären, ob er weiss, wohin er gebracht werden wird, und ihn abschliessend in einen Rollstuhl transferieren. Auch diese Szene ist eine Übungssituation. Nur sind in diesem Kommunikationstraining echte, menschliche Schauspielende involviert.
Denn noch immer werden zwischenmenschliche Fähigkeiten vielerorts – auch am Departement Soziale Arbeit in Bern – mit Schauspielenden im Rollenspiel erlernt und geübt. Der Grund: Vieles kann nicht, oder noch nicht durch einen Avatar ersetzt werden. «In der Kommunikation geschehen so viele Aspekte gleichzeitig, die wir oft gar nicht bemerken», sagt Sibylle Matt, ausgebildete Schauspielerin und Leiterin des Bereichs Kommunikationstraining am Departement Gesundheit der BFH. «Eine andere Person aus Fleisch und Blut im gleichen Raum zu erleben, ist dafür enorm wichtig.» Nur so können seit der Kindheit eingeprägte Kommunikationsmuster – wie wir Sätze bilden, wie wir die Stirn runzeln – aufgedeckt und allenfalls verändert werden.
Wenn es um Berufe geht, bei denen das Zwischenmenschliche eine grosse Rolle spielt, ist das eigene Kommunikationsverhalten eine grosse Baustelle. «Wir möchten, dass unsere Studierenden Empathie lernen. Und diese entsteht, wenn wir in das Innen- leben einer anderen Person schauen können und dabei lernen, ihre Beweggründe nachzuvollziehen», erklärt Matt. Das sei nicht bloss eine wünschenswerte Ergänzung, sondern für viele soziale Berufe zentral. «Man weiss, dass eine gute Kommunikation von Fachpersonen kostenreduzierend ist. Die Menschen fühlen sich verstanden, und es werden beispielsweise weniger unnötige Untersuchungen gemacht.»
Dabei ist das Rollenspiel auch hier nur ein erster – aber wesentlicher – Schritt. Denn im Umgang mit der überzeugend gespielten Trauer einer Schauspielerin, bei der auch Tränen fliessen, erleben sich die Studierenden unmittelbar. «Der Umgang mit eigenen Emotionen und den Gefühlen des Gegenübers ist in unseren Trainings ein wichtiger Aspekt», weiss Matt. Und wie im VR-Training sollen die Studierenden anhand einer anschliessenden Videoanalyse auch ihre Selbstreflexion üben. «Dort gibt es ganz oft Aha-Erlebnisse», sagt Matt. Plötzlich werde den Studierenden bewusst, wie sie mit ihrem Verhalten einen Einfluss auf die andere Person haben. Und weil die Schauspielenden ihre eigenen Eindrücke schildern können, entsteht ein ganzheitliches Bild.
«In der Analyse der Videos erleben die Studierenden sich selbst und ihr eigenes facettenreiches, kommunikatives Verhalten», fasst Matt zusammen. «Anschliessend lernen sie, verhaltensbasiertes Feedback zu geben, entgegenzunehmen und zu verarbeiten.» Dank den unmittelbar erlebbaren Rollenspielen könnten sie ihre Fertigkeiten in völlig unterschiedlichen Situationen anwenden. Das funktioniere sehr gut, doch man verschliesse sich neuen Methoden nicht.
Ist VR eine solche, neue Methode? Werden wir bald nur noch in der virtuellen Welt lernen? Wie das klassische Rollenspiel ist sie eine von vielen didaktischen Werkzeugen. «Es kann durchaus sein, dass VR ähnliche Lerneffekte wie das Rollenspiel hat. Aber dazu muss VR gut entwickelt sein», meint Carli Ochs, Assistentin am Departement für Psychologie der Universität Fribourg. Bisher seien die Programme und Szenarien eher ungenügend.
Damit das Lernen in der virtuellen Realität gelingt, müssen die Situationen der echten Welt entsprechen. «Es fällt uns oft einfacher, das erlernte Wissen in ähnlichen Kontexten anzuwenden», erläutert Ochs. «Deshalb sollte man sich gut überlegen, ob man tatsächlich auf VR setzen will, wenn die gleiche Situation auch in der echten Welt trainiert werden kann. VR ist sicherlich keine universelle Lösung.»
Das wissen auch Bachmann und Abplanalp. «Wir versuchen, den Vorteil von virtueller Realität in einem kleinen Bereich auszunützen», sagt Bachmann. Im Moment macht das VR-Training im Studienplan nur einen sehr kleinen Teil von wenigen Modulen aus. Man wolle herausfinden, wo die Technologie sinnvoll ergänzend eingesetzt werden kann. Man suche nach dem didaktischen Mehrwehrt und verfalle nicht der blossen Technikverliebtheit.
«In der Sozialarbeit geht es um Beziehungsarbeit. Jede Situation ist völlig anders», resümiert Bachmann. «Hier kann VR nicht alles leisten. Aber es können andere Kompetenzen trainiert werden.» Die Studierenden könnten an Sicherheit gewinnen und verschiedene Settings aus dem Berufsfeld spielerisch kennenlernen. «Aber wir wollen den Unterricht nicht durch VR ersetzen.»
Dieser Artikel wurde im Magazin Sozialaktuell (#1/19) veröffentlicht.