Die eigenen Gedanken treiben uns oft in den Wahnsinn. Höchste Zeit, sie loszulassen und wieder zu sich zu finden. Aber was heisst das überhaupt? Und was für eine Rolle spielt dabei die Meditation?
von Florian Wüstholz (erschienen in Zeitpunkt #161)
Unsere Gedanken und Gefühle lassen uns fast nie los. «Du musst noch die Wäsche abhängen und den Einkauf erledigen», kommandiert unsere innere Stimme. Und auch die Bemerkung der Chefin von letzter Woche treibt ihr Unwesen; sie lässt dich förmlich nicht los. So läuft vor unserem inneren Auge ständig ein Film. Mal ist es eine Komödie, mal eine Tragödie und immer mal wieder ein futuristischer Thriller. In den Hauptrollen sind unsere Ängste, unsere Hoffnungen. Und in den Nebenrollen diffuse Erwartungen und der Ballast der Vergangenheit. Dabei wissen wir doch: «Erstens kommt es anders. Und zweitens als man denkt.»
Wie schön wäre es, dieses Gedankenkarussell einfach mal abzuschalten. Wie schön wäre es, voll im Moment zu leben, mit offenen Augen und Herzen durch die Welt zu gehen, anstatt alles durch eine Schablone zu sehen und schnurstracks in vorgefertigte Schubladen zu füllen. Aber wir stehen uns leider meist selbst im Weg und tappen in die eigenen Fallen, die wir jahrelang gepflegt und gehegt haben. Loslassen ist verdammt schwierig.
Zum Glück gibt es Meditation.Die hilft bestimmt. Du sitzt konzentriert im Schneidersitz. Die Augen geschlossen. Eine Stimme aus dem Smartphone weist dich an: «Achte auf deinen Atem. Ist er tief oder flach? Ist er schnell oder langsam?» Du gibst dir Mühe, verscheuchst deine gedankliche To Do-Liste. Ein paar Atemzüge bist du ganz bei dir, dann schleicht sich der Film wieder an. Das Bild ist erst ganz matt, dann wird es deutlicher, der Ton gesellt sich dazu. Und weg bist du im Kopfkino.
«Es macht nichts, wenn du abschweifst. Komm einfach wieder zurück zu deinem Atem», säuselt die Stimme. Ups, erwischt. Du nimmst dir vor, es von jetzt an richtig zu machen, gibst dir besonders viel Mühe. Deine Aufmerksamkeit gilt dem Atem und sonst nichts. Und schon nach wenigen Sekunden bist du wieder weg. Keine Angst, so geht es vielen, die sich vorgenommen haben, mit Meditation ein bisschen loszulassen.
Das Problem liegt in unserer menschlichen Natur. Das glaubt zumindest der deutsche Philosoph und Neurowissenschaftler Thomas Metzinger. Er vergleicht unseren Geist mit einem Marktplatz, auf dem ständig alle möglichen Gefühle, Absichten, Gedanken und Wünsche um unsere Aufmerksamkeit buhlen. In uns herrscht ein ständiger Wettbewerb um Bedeutung und Anerkennung. Und wer am lautesten schreit, bestimmt am Schluss, wie wir uns verhalten. Ein düsteres Bild. «Es scheint wirklich so zu sein, dass eine Art von Konflikt und Wettbewerb von der Evolution in uns eingebaut wurde», erklärt er in einem Interview. «Sich dieser Tatsache gewahr zu werden, ist nichts Einfaches. Und noch schwieriger ist der Versuch, diese Situation zu überwinden.»
Gemäss Metzinger müssen wir zuerst erkennen, dass wir einer bequemen Erzählung auf den Leim gehen. Die Erzählung besagt, dass wir ein «Selbst» haben, das einfach irgendwie ist. Sie besagt auch, das «Selbst» sei unsere Essenz und bestimme, wer wir wirklich sind. Für Metzinger ist das Gegenteil der Fall: Dieses «Selbst» sei «nichts anderes als der Inhalt eines Modells, eines Bildes, das im Gehirn erzeugt wird». Nur verbirgt sich dieses Bild meist vor uns – es zieht im Hintergrund die Fäden. Denn «wir sind Wesen, die ihr eigenes inneres Modell von sich selbst nicht mehr als ein Modell erleben können».
So in etwas lautet die Theorie, dass es so etwas wie das «Selbst» gar nicht gibt. Wir konstruieren bloss ständig eine Geschichte unserer selbst und halten wie verrückt daran fest. Wir nehmen eine Rolle ein und spielen sie in unserem Alltag. Fühlen wir uns angegriffen, ist das nichts anderes als ein Angriff auf die Rolle in der Geschichte, die wir selbst erfunden haben. Eigentlich glaubt Metzinger, dass wir Menschen weder ein Selbst haben, noch eines sind «Was sie haben, ist ein Selbstmodell – und dies ist letztlich ein komplexer Gehirnzustand.»
Für Metzinger befinden wir uns zwar ständig in diesem «Ego-Tunnel», müssen uns aber nicht widerstandslos hingeben. Wir können hinter die Bühne schauen und die Regie wieder übernehmen. «Eine der direktesten Arten und Weisen, auf unser Selbstmodell Einfluss zu nehmen, besteht darin, den Körper zu pflegen, zu bewegen, auf eine bestimmte Art zu reizen und zu konfigurieren», erklärt er. Denn der Anker des Selbstgefühls ist das Bewusstsein des eigenen Körpers.
In der Meditation verabschieden wir uns vom Marktplatz. Oder zumindest lassen wir uns vom Schrei nach Aufmerksamkeit nicht mehr wie eine Kugel im Flipperkasten herumschleudern. Hier lassen wir unsere Vorstellung, was wir zu denken und fühlen haben, an uns vorbeiziehen. Wir betrachten unsere eigene Erzählung ganz einfach von aussen. Und wir lassen unser krampfhaftes Denken in Mustern und Schubladen einfach los.
«Körperbild und Selbstmodell bleiben zunächst bestehen, vielleicht sogar feiner, ruhiger, stabiler und ausdifferenzierter als bisher», beschreibt Metzinger das Resultat von Meditation oder Yoga. Mit der Zeit erleben wir so das Modell tatsächlich als inneres Bild. Je länger wir dem Treiben auf der Bühne mit einer gewissen Distanz begegnen, desto stärker entlarven wir das Schauspiel. Im Resultat verschwindet das Selbstmodell zwar nicht, «aber das gewöhnliche Ich-Gefühl, die Identifikation, verschwindet». Wir lassen endlich los.
Vielleicht denkst du jetzt: Das ist eine reichlich verklärte Sicht auf den Effekt von Meditation. Immerhin ist es verdammt schwierig, die eigenen Ängste, Bedürfnisse, Vorstellungen und Erwartungen wirklich loszulassen – vor allem mit pseudospiritueller Achtsamkeit und Atemübungen. Stimmt, immerhin weiss Metzinger dank jahrzehntelanger Meditationserfahrung von den Schwierigkeiten, sein «Selbst» loszulassen. Denn auch in der Meditation identifizieren wir uns reichlich mit dem Märchen, das wir uns auftischen – vor allem, wenn wir besonders «gut», besonders «konzentriert», besonders «erleuchtet» meditieren wollen.
«Konzentration ist eine Form von Widerstand, Konzentration ist nicht Meditation», zitiert er den indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti. Sogar in der Meditation wollen wir noch die Kontrolle haben, sträuben wir uns davor, loszulassen. Doch für Metzinger hat die Auflösung der Identifikation, der Blick hinter die Kulissen, «sehr viel mit dem Verlieren oder Aufgeben von Kontrolle zu tun».
Trotzdem geht es in der Meditation nicht darum, Kontrolle abzugeben. Loslassen heisst nicht, sich in der eigenen Gefühlswelt treiben zu lassen und im Schauspiel zu versumpfen. Es heisst, die Welt wieder aus der Perspektive der Anfängerin zu sehen – ganz gemäss dem «beginner’s mind» aus dem Zen Buddhismus. Loslassen heisst, die Welt wie ein Kind zu sehen, zu erkunden. Ohne Erwartungen, ohne Erfahrungen, ganz auf den Moment bedacht.
«Die Identifikation mit dem Denken aufzulösen bedeutet, zum stillen Beobachter deiner Gedanken und deines Verhaltens zu werden», schreibt Eckart Tolle in seinem Bestseller «The Power of Now». «Du hast Raum für Liebe, für Freude, für Frieden geschaffen.» Wir hören dann endlich auf, alles um uns herum zu verurteilen und beurteilen. Wir sehen es einfach so, wie es ist. Doch es ist nicht einfach, in diesem Zustand zu verweilen. All zu leicht verfallen wir wieder in alte Muster.
«Sobald der Verstand und die Identifikation mit ihm zurückkehren, bist du nicht mehr du selbst, sondern eine Vorstellung deiner selbst», beschreibt Tolle den Moment, in dem du deinem Selbstmodell wieder erliegst. «Sofort beginnst du Spiele und Rollen zu spielen, um die Bedürfnisse deines Egos zu befriedigen.» Dann ist es um so wichtiger, wieder die Kontrolle über das geistige Leben zu gewinnen.
Für Metzinger bedeutet Meditation eine «systematische Form des inneren Handelns». Wir übernehmen das Steuer, lenken unser Schiff aber nicht in eine bestimmte Richtung. Denn bei genauem Hinsehen entpuppt sich die Meditation «als eine bestimmte Form des aufmerksamen Nicht-Handelns». Erst, wenn wir Autonomie über unser Denken gewinnen, haben wir richtig losgelassen. «Geistige Autonomie ist die Fähigkeit, seine eigenen inneren Handlungen zu kontrollieren und auch auf mentaler Ebene selbstbestimmt zu handeln.»
Loslassen ist also zugleich Kontrolle und Kontrollverlust. Wir geben die Kontrolle ab und versuchen nicht mehr verbissen, Dinge zu erreichen. Gleichzeitig besinnen wir uns auf eine verborgene Form der Autonomie und Freiheit.