Selbstfahrende Autos beflügeln die Fantasie. Doch im Schlepptau ihres zukunftsweisenden Potenzials führen sie auch zu technischen, ethischen und gesellschaftlichen Problemen. Auf Spurensuche im Wallis, wo kleine gelbe Busse selbständig werden.
von Florian Wüstholz (erschienen in Surprise #422)
Die Euphorie der Technikwelt ist gross. In nur wenigen Jahren wimmelt es in unseren Städten nur so von selbstfahrenden Autos, Trams und Bussen. Die Strassen sind sicherer, der tote Winkel ein Relikt der Vergangenheit. Denn das Auto der Zukunft sieht alles und übersieht nichts. Ökologisch gleicht die Stadt der Zukunft einem modernen Paradies. Mit Elektromotoren gleiten die fahrbaren Untersätze lautlos durch die Strassen und sind dank cleveren Algorithmen immer voll besetzt. Die Zeiten, in denen Menschen zu Tausenden alleine in ihren SUVs herumkurven, sind vorbei. In dieser Utopie bleibt Platz zum Spielen und Flanieren.
Noch ist dies alles Zukunftsmusik. Denn der Quantensprung zum völlig selbständigen Auto liegt gemäss Experten für autonome Systeme, wie Roland Siegwart von der ETH Zürich, noch in weiter Ferne. Abgesehen von ein paar Teslas, die mit unterstützenden Systemen ausgestattet sind, haben Menschen immer noch das Zepter in der Hand. Der Computer darf die Klimaanlage und das GPS regeln, viel mehr nicht. Zugegeben: An technischer Innovation mangelt es beileibe nicht. Weltweit wird am perfekten Algorithmus für autonomes Fahren getüftelt. Google kurvt im Silicon Valley umher, BMW in München und die Schweizerische Postauto AG im beschaulichen Wallis. Dort drehen seit bald zwei Jahren zwei kleine Shuttles – liebevoll Valère und Tourbillon getauft – ihre Runden in der schmucken Sittener Altstadt.
Wie von Geisterhand gesteuert, gondelt Tourbillon über eine kleine Holzbrücke und macht sich auf den Weg in die gepflasterten Gassen der Altstadt. Hier befindet sich das erste Hindernis für den selbstfahrenden Shuttlebus. Ein enger Durchgang muss passiert werden. Er ist gerade einmal 20 Zentimeter breiter als das Fahrzeug selbst. Langsam, aber präzise fährt der Shuttle an den Hauswänden vorbei. «Die meisten Menschen sind beeindruckt, dass der Bus alleine durch diese enge Gasse fährt. Aber für Tourbillon ist das ein Kinderspiel», erklärt einer der beiden Sicherheitspiloten, die an Bord alles überwachen und im Notfall eingreifen. Ein Ruck geht durchs Fahrzeug und Tourbillon bleibt abrupt stehen. Mit seinen sechs Sensoren hat der Shuttle eine Fussgängerin zur Linken rechtzeitig erkannt und wartet nun, dass die Frau vorbeigeht. Sobald der Weg frei ist, beschleunigt der Bus mit einem kleinen Schub und schon fährt er wieder im Schritttempo auf der vorprogrammierten Strecke weiter. Jede Strasse, jedes Haus und jeder Blumentopf wurden vor dem Projektstart millimetergenau vermessen. Dann wurden zusätzlich jede Kurve, jeder Rechtsvortritt, jede Haltestelle und jeder Tempowechsel definiert. Nun fährt Tourbillon jeden Tag die immer gleiche Strecke ab und gleitet dabei wie auf Schienen durch die historischen Gassen.
«Hier werden wir gleich ein Problem kriegen», prophezeit einer der Piloten am Place de la Planta. Dieser kleine Platz ist jedes Mal eine harte Nuss für Tourbillon. Der Grund: Dort fädelt der Bus sich in den laufenden Verkehr ein und es gilt Rechtsvortritt. Registriert das Fahrzeug mit den Sensoren einen Lastwagen oder ein Velo auf der rechten Seite, macht es keinen Wank. Erst wenn die Strasse frei ist, rollt es vorsichtig über den Asphalt. Doch heute wird daraus nichts. Ein Lastwagen parkiert am rechten Strassenrand und der Chauffeur lädt gemütlich seine Waren aus. Es braucht eine manuelle Freigabe des Piloten, damit sich Tourbillon wieder in Bewegung setzt.
Solche Situationen sind nicht die einzigen Momente, in denen die Piloten eingreifen müssen. In der Flaniergasse Rue de Remparts hängen von einer Stahlkonstruktion auf der Seite grüne Ranken in die Strasse hinein. «Hier musste ich letzte Woche die Pflanzen zurückstutzen», erklärt der zweite Pilot. Wenn der Wind Äste und Blätter schaukeln lässt, meint Tourbillon manchmal, ein Hindernis sei im Weg. Die Reaktion ist vorprogrammiert: abbremsen oder vollständig anhalten. Ausweichen ist nicht vorgesehen. Die festgelegte Strecke verlässt der Shuttle nur auf menschliches Kommando hin. Wie in einem Videospiel wird Tourbillon dann mit einem Joypad vom mitfahrenden Piloten gesteuert.
«Überholen und Ausweichen hört sich einfach an», erklärt Maud Simon, die mehrere Jahre bei BestMile arbeitete. Die Partnerfirma des Pilotprojekts hat ihre Zelte mitten im modernen Innovationspark der ETH Lausanne aufgeschlagen. Hier wird an der Routenplanung und -optimierung von Tourbillon getüftelt. «Es ist eine Sache, ein Hindernis zu erkennen», erläutert Simon. «Sobald du es aber überholen willst, musst du wissen, ob genügend Platz vorhanden ist, ob du auf die Gegenfahrbahn ausweichen musst, in welche Richtung sich die anderen Verkehrsteilnehmenden bewegen. Das ist ein extrem komplizierter Prozess.» Ein Prozess, dem Tourbillon noch nicht gewachsen ist.
Auch bei der Postauto AG ist man sich der Schwierigkeiten bewusst. Trotzdem ist man guter Dinge und hat zusammen mit der Stadt Sion das Projekt verlängert. Denn das Experiment hat nicht nur die Grenzen des autonomen Fahrens aufgezeigt, sondern auch die Möglichkeiten. An der Belpstrasse in Bern hat Jürg Michel, der Leiter des Projekts in Sion, sein Büro. Tief in einen postautogelben Sessel eingesunken, sagt er: «Es gibt Menschen, die haben das Gefühl, wir fahren morgen alle nur noch in selbstfahrenden Autos. Davon sind wir noch weit entfernt.» Während seine kräftigen Hände mit einem Kugelschreiber spielen, beschreibt er plastisch die grossen Herausforderungen: Von Softwarebeschränkungen und Sonderbewilligungen über Schneefall bis zum Lackschaden ist alles dabei. Vor allem aber spielen juristische und ethische Debatten eine Rolle.
Denn je autonomer ein Fahrzeug ist, desto komplexer und verzweigter werden die nötigen Entschei-dungsprozesse. Tourbillon muss sich bisher nur einfachen Situationen stellen. Wenn etwas im Weg ist, bremst der Shuttle. Wenn der Weg frei ist, fährt er im programmierten Tempo weiter. Doch was, wenn ein Kind plötzlich auf die Strasse rennt und der Bremsweg zu kurz ist? Soll das Auto ausweichen und möglicherweise Insassen oder andere Verkehrsteilnehmende in Gefahr bringen? Solche Überlegungen sind mit ein Grund dafür, warum im Moment fast die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer unter keinen Umständen in einem vollständig autonomen Fahrzeug mitfahren möchte. Ein Unfall im US-Bundesstaat Arizona, bei dem Mitte März ein selbstfahrendes Testauto der Firma Uber eine Fussgängerin anfuhr und tödlich verletzte, dürfte das Vertrauen in die neue Technologie weiter erschüttert haben. Wenig erstaunlich, dass selbstfahrende Autos auf Schweizer Strassen bisher noch nicht einmal einen Spurwechsel selbständig in die Wege leiten dürfen.
Deswegen kommen die fahrerlosen Busse bereits bei einfachsten Abwägungen in die Bredouille: So tuckern sie in Sion minutenlang lautlos hinter einer telefonierenden Person her oder werden von einem unvorhergesehenen Hindernis vollständig paralysiert. Bevor wir Autos ganz alleine auf die Strasse lassen, müssen wir zunächst entscheiden: Welche Moral wollen wir den Fahrzeugen mit auf den Weg geben? Alte vor Jungen? Hunde vor Katzen? Fünf Menschen vor dem Tod retten und dafür den Tod einer anderen Unbeteiligten in Kauf nehmen?
Diesen Fragen widmen sich Forschende an der Universität Osnabrück. Menschen werden dazu mit Virtual-Reality-Brillen auf eine virtuelle Fahrt durch Wohngebiete geschickt. Die Idee: Wenn wir erst einmal wissen, wie Menschen sich in Konfliktsituationen im Strassenverkehr verhalten, könnten wir die Entscheidungsalgorithmen entsprechend menschlich programmieren. Doch ist das der richtige Weg?
Die Forschenden sind optimistisch, dass diese Herangehensweise der Schlüssel für die Auflösung von Konfliktsituation sind. «Menschliche moralische Entscheidungen können prinzipiell mit Regeln beschrieben werden», meint Leon Sütfeld, der an der Osnabrücker Studie mitgearbeitet hat. «Diese Regeln könnten dann auch von Maschinen genutzt werden.» Die Ethik-Kommission des Deutschen Bundesministeriums für Verkehr sieht das anders. In jeder autonomen Handlung steckten unglaublich viele Details, die sich oftmals nur aus dem spezifischen Kontext ergäben. Das führe dazu, dass die vielfältigen Konfliktsituationen im Strassenverkehr nicht «ethisch zweifelsfrei programmierbar» seien.
Zurück in Bern macht sich Jürg Michel einige Notizen. Die Frage der ethischen Verantwortung treibt auch ihn um. «Heute ist die Strategie ganz klar, defensiv zu fahren», erklärt er. Gerade deshalb seien Projekte wie das in Sion oder die Forschung in Osnabrück zentral. Die Strasse ist schlicht ein anderes Pflaster als der Schreibtisch der Entwicklerin. Immer wenn es in Sion Schwierigkeiten gibt, würden die Beteiligten enorm viel lernen. So hatte Tourbillon im September 2016 eine Situation falsch eingeschätzt, es kam zu einer kleinen Kollision mit der Heckklappe eines anderen Autos. «Wir haben nie so viel gelernt wie in der Zeit dieses zum Glück sehr glimpflichen Lackschadens», meint Michel. So wurde dem Shuttle beigebracht, mehr unterschiedliche Objekte auseinander zu halten. Dank grösseren Abständen und tieferen Geschwindigkeiten nochmals erhöht wurde auch die Sicherheit nochmals erhöht.
Der Betrieb der Busse wirft noch weitere gesellschaftliche Fragen auf: Wer braucht noch eine Buschauffeurin, wenn der Bus auch ganz alleine von Haltestelle zu Haltestelle fahren kann? Im öffentlichen Verkehr könnte die Digitalisierung eine radikale Transformation auslösen, ähnlich wie sie im Bereich der Logistik und im Detailhandel bereits voranschreitet. Massenhaft Arbeitsplätze könnten verloren gehen.
Florian Butollo forschte an der Universität Basel und war in den letzten Jahren wiederholt in China, um sich ein detailliertes Bild über die Situation von Fabrikarbeitenden zu machen. Heute leitet er die Forschungsgruppe «Arbeiten in hoch automatisierten digital-hybriden Prozessen» am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft. «Die Digitalisierung wird als Entwicklung dargestellt, die unaufhaltsam ist. Das ist nicht demokratisch. Es müsste eine gesellschaftliche Aushandlung geben. Aber das passiert viel zu wenig», erklärt er.
Doch wie soll so eine Aushandlung aussehen und wer müsste sie vorantreiben? Daniela Lehmann, Koordinatorin für Verkehrspolitik bei der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV, ist pragmatisch: «Wir können und wollen die Digitalisierung nicht verhindern.» Das Wichtigste sei, bereits frühzeitig alle Beteiligten mit ins Boot zu holen. Denn wenn die Automatisierung erst einmal ins Rollen komme, würden womöglich viele auf der Strecke bleiben. Nur wenn alle an der Diskussion beteiligt seien, könne garantiert werden, dass «die ganze Gesellschaft davon profitiert».
Jürg Michel sieht die Verantwortung nicht alleine bei denjenigen, welche die Automatisierung vorantreiben. Vielmehr müsse die Gesellschaft als Ganzes verhandeln. Wie das konkret aussieht, kann er nicht sagen. Doch er sieht die Entwicklung auch weniger problematisch: «In Sion generieren wir Arbeitsplätze. Da sind wir weit weg von Rationalisierung.» Er vergleicht die Situation mit dem Schicksal von Liftboys. Früher fuhren sie in jedem Lift mit, heute gibt es sie nur noch im Luxushotel. Gleichzeitig gebe es heute viel mehr Lifte und darum auch mehr Servicepersonal, Monteurinnen und Lifthersteller. Ähnliches schwebt ihm auch im öffentlichen Verkehr vor, wo autonome Shuttles eine Ergänzung zum bestehenden Angebot sein könnten.
Doch ob es wirklich so kommen wird, ist alles andere als klar. Florian Butollo wagt keine Prognosen; zu vielschichtig sind die Auswirkungen von Technologie auf den Arbeitsmarkt. «Es wird oft übersehen, wie viel neue Arbeit entsteht», schliesst er sich der Beobachtung von Michel an. Umgehend relativiert er: «Das heisst aber nicht, dass es keine sozialen Umbrüche, Verwerfungen und Kämpfe gibt.» Denn mehr Arbeit heisst nicht automatisch gleich gute oder sogar bessere Arbeit. Vor allem in den fortgeschrittenen Regionen der Welt habe die soziale Ungleichheit in den letzten Jahren massiv zugenommen. Und Butollo ist skeptisch, dass sich das mit der Digitalisierung ändern wird. Die Kehrseite sei nämlich zunehmend «prekäre Arbeit und instabile Beschäftigung».
In Sion dreht Tourbillon seine Runden, bis dato unter direkter Aufsicht von Menschen. Mit der Erwei-terung der Teststrecke bis zum Bahnhof sind neue Herausforderungen hinzugekommen. Es gibt noch viel zu lernen.