«Wer darf was filmen und warum?»

In ihrem Dokfilm «All Creatures Welcome» taucht Sandra Trostel tief in die Hacking-Community ein. Eine Erfahrung, die ihr Filmschaffen verändert hat, wie sie im Gespräch erklärt.

von Florian Wüstholz (erschienen in WOZ 11/19)

Blinkende, farbenfrohe LED-Lämpchen, ein Wirrwarr aus Kabeln, die sich in einer mobilen Toilette vereinen, durch eine gelbe Röhre schwebt Doctor Whos Telefonkabine. Dann Räume voller Tische, Menschen und Club-Mate-Flaschen. Überall Lötkolben, Computerchips und Roboter. Willkommen in der Welt des digitalen und analogen Hackens. Willkommen in der Welt des 1981 gegründeten Chaos Computer Club (CCC).

Der deutsche Verein setzt sich gegen Internetzensur und für weltweite Informationsfreiheit und Datenschutz ein und hat sich zum Kompetenzzentrum für alle Fragen der Computersicherheit entwickelt. Seine Mitglieder treffen sich am jährlichen Kongress und alle vier Jahre in einem Chaos Communication Camp. Lokale Ableger des CCC, die eigene «Chaostreffs» durchführen, existieren in zahlreichen Städten, darunter auch Zürich.

In ihrem neuen Dokumentarfilm «All Creatures Welcome» zeigt die Filmemacherin Sandra Trostel, was die Hacking-Community vereint, wenn sie am Kongress oder im Camp zusammenkommt. Und wie dabei eine Gemeinschaft wie ein Vogelschwarm entsteht: dezentral organisiert und trotzdem irgendwie zusammen auf Kurs.

«All Creatures Welcome» ist eine Art Abenteuerspiel, bei dem Trostel selbst in die Figur des «Film-Gizmo» schlüpft und die Grundsätze der utopischen Welt des CCC für sich entdeckt. Bald verpixelt sie nicht nur Menschen, sondern auch ihre eigenen animierten Vogelschwärme. Mit diesem ästhetischen Stilmittel will sie Fragen aufwerfen: Was dürfen wir uns filmisch ungefragt aneignen? Sind gebastelte Roboter und blinkende Installationen nicht auch Teil unserer Persönlichkeit, von denen nicht ungefragt Bildmaterial weiterverbreitet werden darf?

Still aus dem Film «All Creatures Welcome»

Bereits in früheren Filmen widmete sich Trostel Menschen, die die Gesetze der Gesellschaft herausfordern und transzendieren. Mit ihrem aktuellen Werk geht sie nun selbst ungewöhnliche Wege, denn «All Creatures Welcome» ist unter einer sogenannten Creative-Commons-Lizenz frei verfügbar. Der Film ist dadurch gleichzeitig eine Studie über frei zugängliche Kultur, denn neben dem Filmemachen beschäftigt sich Trostel auch in ihrer Masterarbeit mit der Frage, wie eine Gesellschaft des offenen Teilens von Kultur, Bildung und Wissen aussehen könnte.

Sandra Trostel, wie kamen Sie zur Idee, die Community rund um den Chaos Computer Club (CCC) zu dokumentieren?
Sandra Trostel: Anfangs hatte ich eine vage Vorstellung, einen Film über die Veränderung der Gesellschaft durch die Digitalisierung zu drehen. Während der Recherche stellte ich dann fest, dass viele Filme ein dystopisches Bild zeichnen. Dem wollte ich etwas Utopisches entgegensetzen.

Warum war Ihnen das wichtig?
Auf einer Dystopie lässt sich keine Zukunft aufbauen. Ich wollte den Zuschauern mit meinem Film eine positive Idee mitgeben, wie ein gesellschaftliches Miteinander aussehen könnte. Als Inspiration für eine mögliche Veränderung zeige ich, wie sich diese Community beim jährlichen Kongress und beim Chaos Communication Camp organisiert und wie sie funktioniert – nicht als allgemeingültige Lösung, sondern als Impuls.

So kuschelig, wie sich das anhört, ist der Film aber nicht.
Klar, es gibt nichts, was einfach nur lauschig ist. Die politische Arbeit des CCC ist immer präsent. Das gab mir auch Gelegenheit, die Relevanz gesellschaftlicher Probleme zu zeigen: staatliche und private Überwachung, Kommerzialisierung, Einschränkung von Bürgerrechten oder die Limitierung von freiem Wissen, um ein paar der wichtigsten Themen zu nennen.

Es fällt auf, wie oft Sie in diesem Kontext auf Anonymisierung setzen. Was steckt dahinter?
Die Hacker-Community legt grossen Wert auf das Recht am eigenen Bild. Grundsätzlich darf man ohne Begleitung nicht filmen und muss jede Person vorab fragen, ob man ein Bild von ihr machen darf. Das habe ich konsequent einzuhalten versucht. Man kann also davon ausgehen, dass sogar hinter jeder blinkenden LED ein intensives Gespräch steht.

Was haben blinkende Lämpchen mit Anonymität zu tun?
Es geht natürlich nicht um die einzelne Lampe, sondern um die Haltung. Wir müssen Menschen fragen, ob wir sie aufnehmen dürfen oder nicht. Vielleicht ist es extrem, über eine Lampe zu diskutieren. Aber dabei diskutiert man über eine grundsätzliche Frage: Wer darf was filmen und warum? Das hat meinen Umgang mit Filmaufnahmen nachhaltig geprägt. Ich werde nie wieder einfach so draufhalten können.

Sie haben entschieden, den Film unter einer Creative-Commons-Lizenz zu veröffentlichen. Andere dürfen ihn also kopieren, daran herumbasteln und das Ergebnis wieder veröffentlichen. Wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Entscheidung?
In meinen Filmen reflektiere ich Gesellschaft, und diese Reflexion möchte ich wieder an die Gesellschaft zurückgeben. Mit dem Internet haben wir die technische Möglichkeit, immaterielle Güter beliebig zu teilen und zugänglich zu machen. Es verhält sich nicht wie ein physischer Kuchen, der immer kleiner wird, wenn wir ihn mit vielen Leuten teilen. Auch persönlich war es eine totale Befreiung, sich aus den Strukturen des Filmbusiness zu lösen. Nach meinem letzten Film hatte ich darauf keine Lust mehr. Nun habe ich wieder Spass am Filmemachen, weil ich weiss, dass der Film geschaut und geteilt wird und nicht in der Schublade eines Verleihers verschwindet.

Sie gehen noch weiter. Auf einer Plattform wollen Sie auch Rohmaterial zur Verfügung stellen, damit sich Menschen «ihre eigene Realität» bauen können. Wie passt das zum Anspruch des Dokumentarfilms?
Objektivität gibt es nicht. Ein objektives Bild entsteht erst durch viele subjektive Blickwinkel. Um meine Realität als Autorin zu erweitern, stelle ich also das Rohmaterial zur Verfügung, in der Hoffnung, dass andere meinen Blick auf die Community um den CCC herum erweitern – vielleicht auch mit ihren eigenen Aufnahmen.

Wie verhindern Sie, dass das missbraucht wird?
Das hängt ganz vom Kontext ab. Ich habe einen Film über eine Community gedreht, die sich an allen Ecken und Enden selbst reguliert. Da kann kein Schindluder betrieben werden, ohne dass jemand darauf reagiert. Hätte ich einen Film über Nazis gedreht, hätte ich das Material nicht frei zur Verfügung gestellt.

Der Film wurde mit einem Crowdfunding finanziert. Ist das die Lösung für total unabhängiges Filmschaffen?
Nein. Ich hatte zwar das Glück, dass ich einen Film über eine Gemeinschaft gemacht habe, die bereit war zu klicken, sich finanziell zu beteiligen und mich somit unabhängig von den Institutionen gemacht hat. Aber es kann nicht sein, dass nur jene Filme unterstützt werden, die einer grossen Crowd gefallen oder eine gute Quote haben. Gerade im Dokumentarischen gibt es viele Filme, die formal oder inhaltlich sperrig und ungemütlich sind, die sich ausserhalb der Komfortzone der meisten Menschen bewegen. Ich denke, deshalb brauchen wir neue Kriterien für die Projektförderung.

Was schwebt Ihnen da vor?
Mit den «remuneration rights» hatte der britische Ökonom und Open-Data-Aktivist Rufus Pollock eine schöne Idee. Im Moment gibt es in Deutschland maximal achtzig Prozent des Budgets als eine Art Darlehen, das bei Erfolg zurückgezahlt werden muss – also eine kulturelle Wirtschaftsförderung. Wir könnten aber Dokumentarfilme zu hundert Prozent staatlich fördern. Die Filme kämen dann auf eine Plattform im Netz. Vielleicht könnten sich die Kinos dort zuerst bedienen, damit der wichtige soziale Raum des Kinos erhalten bleibt. Anschliessend sind die Filme aber frei verfügbar, und die Filmemacher erhalten für Klicks eine Zusatzvergütung. So etwas ist technisch möglich und würde dazu führen, dass dokumentarische künstlerische Arbeit und die daraus entstehende Reflexion in einem Feedbackloop umfassend in die Gesellschaft zurückgespielt wird.

Wer soll über die Förderung entscheiden?
Ich frage mich, ob das nicht ein Algorithmus besser lösen könnte als Gremien. Zum Beispiel, indem man ihn auf Diversität und Gleichheit in Bezug auf Form, Inhalt und Produzierende programmiert. Zumindest wäre ich gespannt, was dabei herauskommt.