Vegane Ernährung ist trendy. Hinter der gesunden Lifestyle-Bewegung aber steht die ethisch-politische Forderungen nach Gerechtigkeit für alle und Solidarität mit Unterdrückten. Immer noch trendy?
Was wir essen und welche Kleider wir tragen ist für viele von uns eine persönliche Entscheidung. Die Politik hat dazu nichts zu sagen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Ein Beispiel sind die Produktionsbedingungen unserer Konsumgüter. Sobald nämlich andere zu Schaden kommen, sind wir nicht mehr legitimiert, rücksichtslos unsere persönliche Freiheit zu geniessen. Der Veganismus macht nun darauf aufmerksam, dass nicht bloss auf spanischen Gemüsefeldern und in chinesischen Fabriken Land und Menschen ausgebeutet werden. Auch in unseren Schlachthäusern schädigen wir täglich Millionen von empfindungsfähigen Wesen.
Damit ist schnell klar: Veganismus ist mehr als ein Stupser in Richtung gesunde und ökologische Ernährung. Er macht uns auf die ethische Dimension unseres Umgangs mit Tieren aufmerksam. Die tägliche systematische Schädigung von nicht-menschlichen Tieren ist ein lange tot geschwiegenes ethisches Problem. Und daraus wiederum entwickelte sich in den letzten Jahren die politische Forderung nach einem radikalen Wandel dieses Umgangs.
In der Diskussion um die gesundheitlichen oder ökologischen Folgen der Ernährung fokussieren wir uns nach wie vor indirekt auf das menschliche Wohl. Im Gegensatz dazu will der Veganismus den ethischen Fokus erweitern. Dabei stehen drei ethische Ansprüche im Vordergrund. Erstens müssen unsere ethischen Prinzipien grundsätzlich universalisierbar sein. Zweitens sollen alle empfindungsfähigen Lebewesen – aufgrund dessen, dass sie Subjekte eines Lebens sind – moralisch relevant sein. Und drittens müssen wir im Umgang mit diesen Lebewesen deren intrinsischen Eigenwert beachten.
Diese drei Ansprüche sind durchaus sinnvoll und angemessen. So haben auch klassische Moraltheorien wie der Konsequentialismus oder die Pflichtenethik den Anspruch allgemeingültige Prinzipien zu formulieren. Weiterhin zeigt sich an unserer Empörung über die mehr oder weniger grausame Tötung oder Quälerei von Hunden, Katzen und Delfinen, dass der Kreis der moralisch relevanten Wesen über die Spezies Homo sapiens hinausgeht. Schliesslich erleben viele nicht-menschliche Tiere die Welt bewusst. Die subjektiven Erfahrungen positiver und negativer Art haben für das Tier einen intrinsischen Wert und machen es zu einem Individuum mit Eigenwert.
Die Rolle von Tierrechten ist hierbei zentral. Der ethische Veganismus fordert für viele nicht-menschlichen Tiere fundamentale, unveräusserliche Rechte, welche durch die gegenwärtigen Praktiken systematisch verletzt werden – am wichtigsten ist dabei das Recht auf Leben, Freiheit und Unversehrtheit. Dadurch unterscheidet sich der ethische Veganismus fundamental vom Tierschutz. Denn der Anspruch von Menschen, Tiere zu ihren Zwecken zu nutzen, wird dabei prinzipiell in Frage gestellt und nicht bloss durch strengere Tierschutzbestimmungen eingeschränkt.
Mit anderen Worten: Es reicht nicht, bloss Käfige grösser zu machen und Raufutter zur Verfügung zu stellen. Wir können das vermeintliche Recht auf Leben, Freiheit und Unversehrtheit der sogenannten Milchkuh nicht wahren, indem wir sie zu Zwecken der Milchproduktion einsperren, künstlich befruchten und nach wenigen Jahren schlachten.
Die Idee von Tierrechten ist durchaus umstritten. Einige argumentieren, dass Rechte notwendigerweise mit Pflichten einhergehen. Da aber nicht-menschliche Tiere gewöhnlich keine Pflichten übernehmen können, sollen ihnen also auch keine Rechte zukommen. Andere argumentieren, dass uns ethische Rechte nicht einfach so in den Schoss fallen. Viel eher liegt ihr Ursprung darin, dass sie von Menschen für Menschen im Rahmen eines ethischen Diskurses ausgehandelt werden. Da Tiere an dieser Verhandlung nicht teilhaben können, fallen sie auch nicht in den Bereich, der von Rechten abgedeckt wird.
Beide Einwände laufen jedoch Gefahr, dem ethischen Anspruch der Universalisierbarkeit nicht gerecht zu werden. Die Auffassung von Rechten in den beiden Einwänden greift selbst im engen Kreis von uns Menschen zu wenig weit. Grundsätzlich kommen unveräusserliche Rechte auf Leben, Freiheit und Unversehrtheit nämlich allen Menschen zu. Und zwar unabhängig davon, ob sie Pflichten übernehmen oder am ethischen Diskurs mitwirken können oder könnten. So haben auch schwerstbehinderte Menschen, Kleinkinder oder Demenzkranke eine Würde, die wir nicht verletzen dürfen. Wäre die Natur von Rechten also tatsächlich so wie von den Einwänden formuliert, hätten diese Menschen – genau wie die Tiere – ebenso keine Rechte. Der Verweis darauf, dass es sich dabei um Menschen handelt, weshalb sie einen besonderen moralischen Status innehaben, ist ein offenkundiger Rettungsversuch. Jedoch handelt es sich dabei auch um eine Form des Speziesismus. Die blosse Zugehörigkeit zu einer Spezies – ähnlich der blossen Zugehörigkeit zu einer «Rasse» oder zu einem Geschlecht – kann eine ungleiche Behandlung nicht moralisch legitimieren. Stattdessen müsste ein unabhängiges Kriterium gefunden werden, welches alle und nur Menschen von nicht-menschlichen Tieren unterscheidet. Die Suche danach ähnelt jedoch derjenigen nach dem heiligen Gral, zumal einerseits Leidens- und Empfindungsfähigkeit sowie ein Interesse am eigenen Wohlergehen im Tierreich weitverbreitet sind und andererseits nicht alle Menschen über höhere kognitive Fähigkeiten wie Selbst- oder Zukunftsbewusstsein verfügen.
Auch ausserhalb der ethischen Debatte um Tierrechte finden sich Beispiele dafür, dass es sich beim Veganismus um eine politische Bewegung handelt. Es gibt legale und illegale Tierbefreiungen, die zum Ziel haben, sogenannte Nutztiere entweder freizukaufen oder aus ihren Käfigen zu befreien und ihnen dann oftmals auf Lebenshöfen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, ohne dass Nutzungsansprüche geltend gemacht werden. Oder es werden Informationskampagnen, Undercover-Recherchen und politische Initiativen lanciert, die zum Ziel haben, eine breite Öffentlichkeit auf die Ausbeutung und Unterdrückung von nicht-menschlichen Tieren aufmerksam zu machen.
Hierbei handelt es sich um eine Form der Solidarität mit Schwächeren, wie sie für die politische Linke oder auch die Bürgerrechts- und Friedensbewegung typisch ist. Unterdrückte Individuen werden entweder direkt unterstützt oder es wird versucht, deren Situation durch gesellschaftlichen Wandel zu verbessern. Besonders illegale Tierbefreiungen sind dabei grosser Kritik ausgesetzt. Gewöhnlich handelt es sich bei den befreiten Individuen rechtlich um Eigentum von Menschen. Diese Form des Diebstahls scheint aber zumindest in Fällen der Befreiung von gequälten Hunden oder Katzen moralisch legitim zu sein. Auch hier eilt das Prinzip der Universalisierbarkeit den Tierbefreier*innen zu Hilfe. Wenn wir Hunde, Katzen oder Kleinkinder aus einer misslichen Lage befreien dürfen, dann ist es auch erlaubt, Kühen, Hennen oder Nerzen Freiheit zu schenken.
Die politischen Forderungen, die den Veganismus auszeichnen, umfassen dabei alle Formen der Unterdrückung und Ausbeutung, sei dies in Mastbetrieben oder Sweatshops. Auch in der Solidarität mit Flüchtenden kristallisieren sich die ethischen Ansprüche des Veganismus heraus. Selbstredend gibt es viele vegan lebende Menschen, die sich weder um Ethik noch um Politik kümmern und mit ihrem Verhalten hauptsächlich “etwas für die Tiere” tun möchten. Das ändert jedoch nichts am Kern des Veganismus, der eine grundlegende Änderung des Umgangs mit allen menschlichen und nicht-menschlichen Tieren fordert.
Dieser Text wurde im Juni 2016 in der Zeitschrift Universitas veröffentlicht.