Dem Druck standhalten

Alina Granwehr ist vierfache Schweizermeisterin und erst 16 Jahre alt. Kein Wunder gilt sie als grosse Nachwuchshoffnung. Trotzdem behält sie einen kühlen Kopf; auch dank ihrer Oma.

von Florian Wüstholz (Text und Bild, erschienen im inside 2020)

Hier im tiefsten Aargau ist der Himmel: grau. In Oberentfelden steige ich aus dem Zug – ein Schmalspurbähnchen, eher ein glorifiziertes Tram, das mitten im Suhretal in Schöftland plötzlich endet. An Autogaragen, einem Spar und dem Zahnarzt vorbei spaziere ich weiter in Richtung Muhen – ja, so heissen die Dörfer hier –, bis ich vor einem Tennishangar stehe, wie wir sie aus der ganzen Schweiz kennen. Auf dem Dach wächst schon Moos und schimmert feucht in der Morgenluft.

So ertappe ich mich in meinem klischierten Lokalpatriotismus. Frei nach dem Motto: «Aus dem sonnigen, urbanen, wichtigen Bern in den düsteren, verschlafenen Aargau.» Aber so einfach ist es eben doch nie im Leben. Denn drinnen in der warmen Tennishalle kämpfen gerade Juniorinnen und Junioren aus aller Welt um den Turniersieg am ITF Turnier. So etwas sucht man in der Bundesstadt vergeblich, da können wir uns noch so oft die Aare hinuntertreiben lassen.

Und vor allem: Auf dem Platz steht auch Alina Granwehr. Die 16-Jährige mit dem fein säuberlich geflochtenen Zopf und der krachenden Rückhand ist seit wenigen Wochen U18-Schweizermeisterin. Vorher war sie bereits drei Mal die beste Schweizer junge Tennisspielerin. In der Schweiz belegt sie aktuell Rang 31. Und im letzten Jahr wurde sie zur Wiler Nachwuchssportlerin des Jahres gewählt. So schreibt man «grosse Erwartungen».

Erbrechen, Bauchkrämpfe, Durchbeissen

«Sorry, ich schwitze noch vom Aufwärmen», entschuldigt sie sich, als wir uns im Clubrestaurant hinsetzen. Sie wirkt gelassen, wir kommen schnell ins Gespräch. Bis vor wenigen Minuten schaute ich ihr von hier aus zu, wie sie mit ihrer Doppelpartnerin Julie Sappl und ihrem Trainer Kai Stentenbach die Bälle präzis und kraftvoll übers Netz schlug. Ihre Ernsthaftigkeit auf dem Platz fiel mir sofort auf.

In wenigen Stunden steht für Granwehr das Viertelfinale gegen die Deutsche Mia Mack an. «Ich hoffe, es läuft etwas besser als in den ersten Runden», bemerkt sie. Damit meint sie vor allem ihren Magen, der bis jetzt so gar nicht mitspielen wollte. Bauchkrämpfe und Erbrechen plagten sie während den ersten beiden Spielen. Trotzdem biss sie sich durch – und wird auch heute wieder in drei Sätzen gewinnen. Vielleicht half das Nutellabrot am Morgen, wahrscheinlich eher ihre Entschlossenheit und ihr «offensives und aggressives» Spiel. So zumindest beschreibt sie ihre eigene Spielweise.

«Ich versuche immer das Beste aus meinem Spiel zu machen», sagt Granwehr, während sie mit den Bändern an ihrem Pullover spielt. «Auch wenn es mal nicht so gut läuft.» An den Schweizermeisterschaften der Aktiven im letzten Dezember konnte sie diese Einstellung deutlich unter Beweis stellen. In der zweiten Runde lag sie gegen ihre deutlich besser klassierte Gegnerin 1:6, 1:4 zurück. «Bis dahin machte ich fast keine Punkte. Das war ziemlich deprimierend.» Später im Tiebreak musste sie gar Matchbälle abwehren. Trotzdem konnte sie das Spiel drehen und gewinnen.

Ich merke: So schnell kauft niemand Alina Granwehr den Schneid ab. Und dass sie mental in den letzten Jahren gewachsen ist, weiss sie auch selbst. «Man weiss nie, wie es ausgeht, bevor der letzte Punkt gespielt ist», macht sie deutlich. «Beim Tennis kann alles sehr schnell drehen.»

Granwehr spürt die Erwartungen, die immer deutlicher werden. An den Schweizermeisterschaften war sie auf den Tischsets und in allen Heften abgedruckt. «Aber den grössten Druck mache ich mir ohnehin selber», relativiert sie. «Ich habe immer mal wieder das Gefühl, meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht zu werden.» Schon früher sei sie so gewesen. Eine Perfektionistin halt.

Wennschon, dennschon

Ihre erste Begegnung mit Tennis hatte sie bereits als kleines Kind. Damals probierte sie verschiedene Sportarten aus, beim Racket blieb sie hängen. «Es hat mir einfach am meisten Spass gemacht», erinnert sie sich. Aber wie kommt man von ein bisschen Spass zur Entscheidung, alles auf eine Karte zu setzen? «Mit der Zeit merkte ich, dass Tennis für mich mehr als Spass bedeutet.» Denn irgendwann dachte sie auch noch an Aufschläge und Stoppbälle, wenn sie schon lange nicht mehr auf dem Platz stand. Tennis wurde ihr Leben.

So entschied sie sich mit ihren Eltern, aufs Ganze zu gehen. «Natürlich überliessen sie mir diese Entscheidung», wiegelt Granwehr allfällige Bedenken ab. «Aber mein Vater sagte auch: Wenn es dir gefällt, dann machen wir das und dann machen wir es richtig.» Mit Profisport kannte er sich als ehemaliger Fussballer beim FC Wil aus. Und Granwehr behielt diese Einstellung offenbar bis heute. Halbe Sachen gibt es bei ihr nicht.

Mittlerweile trainiert sie im Leistungszentrum im Biel – Seite an Seite mit anderen jungen Talenten. Anfangs wohnte sie auch dort. «Es ist natürlich cool, wenn man die ganze Zeit von anderen Tennisspielern umgeben ist», sagt sie. Doch bei ihrer «Oma» in Grenchen, wo sie jetzt unter der Woche lebt, könne sie einfach besser abschalten. «Das ist mir sehr wichtig. So komme ich auch ab und zu ein bisschen vom Tennis weg.» Es tut gut, zwischendurch Distanz zu haben – sonst fliegen einem bald die Tennisbälle nicht nur auf dem Platz um die Ohren.

Distanz kriegt sie auch, wenn sie an turnierfreien Wochenenden nach Wil zu den Eltern fährt. Dort hat sie Zeit, mit der Mutter einzukaufen und mit Freundinnen abzumachen. «Natürlich hat sich mein Freundeskreis eingeschränkt», meint Granwehr. «Gleichzeitig habe ich gemerkt, wer hinter meiner Entscheidung steht und wer nicht.» So kann sie sich auf die verbliebenen Freundinnen verlassen, auch wenn sie gerade in Stockholm oder Tokio auf dem Platz steht. Oder wenn sie mal Heimweh hat. Denn: Die vertraute Welt und die aufmunternden Worte sind bloss ein Anruf entfernt.

Realistische Ziele

Auch wenn sie nicht mehr in Biel wohnt, ist das SwissTennis Leistungszentrum für Granwehr dennoch immer noch ein wichtiger und lehrreicher Ort. Hier trifft sie auf bekannte Schweizer Spielerinnen wie Timea Bacsinszky oder Viktorija Golubic. Kann sich austauschen, von ihnen lernen oder einfach plaudern. «Ich dachte nie, dass ich einmal so viel Kontakt mit ihnen haben würde», erzählt sie. Nur Stan würde sie gerne mal noch treffen – das sei so ein «Träumchen» von ihr.

Dass Federer auf dem Grossbildschirm gerade um den Finaleinzug kämpft, scheint sie hingegen nicht so sehr zu interessieren.

Ohnehin denkt sie lieber an ihre eigenen Ziele. Denn im Herbst will sie selber auf der Grand Slam-Bühne stehen. Zwar erst einmal bei den Juniorinnen. Doch auch dafür muss sie noch ein paar Plätze in der Weltrangliste gut machen – an diesem Donnerstag im Januar steht sie noch auf Platz 171. «Mein Ziel für dieses Jahr ist das US Open», schaut sie nach vorne. «Auf das arbeite ich hin und das motiviert mich.» Dafür muss sie unter die Top 100 der Juniorinnen. Aber sie weiss, dass es bloss zwei, drei gute Turniere braucht und der Traum kommt in greifbare Nähe.

Klappt alles, reicht es im Big Apple vielleicht auch wieder einmal für einen Schwatz mit Belinda Bencic. Mit ihrem Vorbild hat sie schon früher gespielt. «Sie hat wie ich in Uzwil trainiert», erinnert sich Granwehr. Und ich frage mich: Was ist eigentlich in diesem Ostschweizer Apfelmost drin?

Doch das sind alles Nebensächlichkeiten. Granwehr konzentriert sich lieber ganz auf sich selbst. Und auch wenn ein WTA-Ranking und ein richtiger Einstieg bei den Profis das definierte Ziel bleiben, liegt der Fokus klar auf der Juniorinnentour. Hier kann sie weiter an sich feilen, Erfahrungen sammeln und im richtigen Moment den Sprung wagen.Kurz nach zehn haben sich sogar in Oberentfelden die Wolken verzogen. Der Tag verspricht schön zu werden. Und als ich bei meiner Kamera auf den Auslöser drücke, strahlt die Sonne in Granwehrs Gesicht. Es ist ihr zu wünschen, dass sie noch lange einen Platz an der Sonne geniessen kann.