von Florian Wüstholz (Text und Bild; erschienen im inside 2019)
Einmal an einem Grand Slam Tennis spielen. Einmal neben den ganz Grossen im Kraftraum trainieren, als wäre es das Normalste auf der Welt. Einmal die brennende Sonne Australiens im Nacken spüren, während man den gelben Filzball übers Netz drischt. Ja, was haben wir nicht alles für Träume. Was stellen wir uns als Kinder nicht alles vor, während wir den Tennisball gegen die Garage spielen. Fast immer bleiben unsere Vorstellungen Kopfkino. Schön anzusehen, aber fernab der Realität.
Doch manchmal kommt es anders. So wie bei Dominic Stricker. Dann zahlt sich das jahrelange Training aus. Dann ist plötzlich alles im Fluss. Dann reihen sich die Turniererfolge aneinander. Und dann ist man plötzlich in Down Under und spielt am Australian Open Junioren Grand Slam. Wer hätte das gedacht?
Der 16-jährige Stricker kann es immer noch nicht richtig glauben. «Das konnte man nicht vorhersehen», weiss er. Ende November reiste er für drei Wochen nach Israel. Dort standen drei Turniere im Einzel und Doppel auf dem Programm. Unerhörte fünf Mal schaffte er es bis in den Final. «Ich war einfach im Flow.» Drei davon gewann er und löste damit gleich das Ticket nach Melbourne. Und jetzt sitzt er wieder in der Schweiz und hat eine Riesenerfahrung im Gepäck.
Dabei fing alles ganz unscheinbar an. Als Sohn eines ehemaligen Schweizermeisters im Tischtennis kam er natürlich schon früh mit Rackets und Bällen in Berührung. «Ich war schon immer von Bällen begeistert. Als ich sechs war, rief mich Roger Meylan nach einem Schnuppertraining an und wollte mich trainieren», erinnert er sich. Der heutige Trainer im Nationalen Leistungszentrum in Biel hatte offenbar Talent entdeckt. Doch ein Garant für Erfolg war das noch lange nicht.
Erst mit 12 merkte Stricker dann, dass aus dem Talent eine echte Chance gewachsen war. Denn er wurde völlig unerwartet U12-Schweizermeister. «Der Sieg kam aus dem Nichts. Ich war nicht einmal gesetzt.» In diesem Turnier passte einfach alles. Und trotzdem weiss Stricker, dass der Erfolg nicht bloss auf Talent zurückzuführen ist. «Es ist schon unglaublich, dass ich das in die Wiege gelegt bekommen habe. Aber das meiste ist sicherlich harte Arbeit.»
Um noch härter an sich zu arbeiten, zog er im letzten Sommer aus dem Elternhaus in Grosshöchstetten nach Biel ins Nationale Leistungszentrum. Von Montag bis Freitag heisst es jetzt: trainieren, trainieren, trainieren. Zum Glück traf er in der WG auf alte Bekannte: So ist der Sohn von Meylan sein Zimmerpartner. Und auch Jérôme Kym, mit dem er beim Sporting Interclub in der NLC spielt, lebt dort. «In Biel ist es schon fast wie eine Familie», witzelt er.
Biel hat auch noch andere Vorteile. Er trainiert dort mit den besten Junioren der Schweiz. Auch an Turniere fahren die jungen Cracks oft gemeinsam. Gibt es da keine Rivalitäten? «Klar gibt es auch immer Konkurrenz. Das ist normal im Einzelsport.» Gleichzeitig unterstützt man sich gegenseitig und kann von den anderen profitieren. «Wenn es bei einem gut läuft, zieht das die anderen mit.»
Ohnehin war das letzte Jahr für den Linkshänder unglaublich. Zwar meinte sein Trainer schon immer, dass der Erfolg irgendwann kommt, wenn er weiter hart an sich arbeitet. Trotzdem ging dann alles ziemlich schnell. «Hätte man mir vor einem Jahr angeboten, an die Australian Open zu gehen, hätte ich sofort unterschrieben.» Auch für die Eltern kam die Qualifikation fürs Hauptfeld der Junioren überraschend. Für einen kurzfristigen Flug nach Melbourne reichte es nicht. «Sie kommen dann vielleicht im nächsten Jahr oder an die French Open Ende Mai. Wenn ich es schaffe.»
Nur am Wochenende ist er noch in seinem alten Zuhause im Emmental. Dann verbringt er Zeit mit der Mutter und der Schwester oder geht mit dem Vater auf den Golfplatz. «Beim Golf spielen kann ich den Kopf lüften», erzählt er. Das ist sicher nötig, denn nebst Konditionstraining und Tennis spielen besucht er auch noch die Schule in Biel. Für die Zukunft will gesorgt sein.
Im Gegensatz zu Kym mit seinen fast zwei Metern Grösse kann Stricker auf dem Platz nicht mit seiner Grösse trumpfen. Mit 1.80 Metern gehört er nicht zu den Riesen im Tennissport. Doch er sieht es gelassen. Mit Beweglichkeit kann er viel wettmachen. Gleichzeitig hat er als Linkshänder ein paar Trümpfe in der Hand. «Der kleine Slice nach aussen ist mein Favorit», erklärt er. Das kennen und fürchten wir alle vom jahrelangen mitfiebern bei Matches zwischen Nadal und Federer.
Gerne würde er mal gegen einen richtig guten Linkshänder spielen und sich ein paar Tricks abschauen. An den Australian Open war er Nadal zwar im Kraftraum nahe, doch für ein Sparringmatch hat es dann doch noch nicht gereicht. So verlässt er sich einfach weiterhin auf die eigenen Stärken: eine dominante Vorhand und eine solide Rückhand. Auch der Service ist trotz der Grösse effektiv. Kommen noch etwas mehr Erfahrung und Konstanz hinzu, dürfen sich die anderen schon mal in Acht nehmen.
Zumindest die Erfahrung dürfte in Melbourne einen grossen Sprung gemacht haben. «Ich war schon sehr nervös am Anfang. Gleichzeitig war ich auch fokussiert auf mein Spiel.» Das verlor er zwar in zwei Sätzen, verkaufte sich aber teuer. «Das Niveau ist an einem Grand Slam halt einfach schon noch ziemlich viel höher.» Darum will er unbedingt besser werden, um beim nächsten Mal ein paar mehr Runden zu spielen. Und, wer weiss, vielleicht auch irgendwann einmal auf dem Centre Court zu stehen.
An Ambition fehlt es dem jungen Stricker definitiv nicht. Jetzt gilt es erst mal, noch ein paar Punkte zu sammeln, um an einem weiteren Grand Slam dabei sein zu können. Schliesslich weiss er jetzt, dass er dort mitspielen kann. «Auch im Ranking möchte ich mich verbessern», meint er. Das bedeutet natürlich weiter harte Arbeit und die nötige Portion Glück.
Denn damit es mit dem Traum vom Profisport klappt, dürfen auch keine Verletzungen dazu kommen. Bisher wurde er verschont – ein eingeknickter Fuss war das schlimmste. Doch aus Vorsicht hat er dieses Jahr schon mal das Skifahren ausgelassen. Man will das Glück ja nicht unnötig herausfordern. In solchen Momenten blitzt auch der grosse Optimismus durch. «Ich habe keine Angst vor Verletzungen. Wenn es passiert, dann passiert es halt. So etwas kann man nicht steuern.»
Haben wir hier eine neue Nummer 1 vor uns? Vielleicht, vielleicht nicht. So etwas ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall warten auf Stricker noch einige Hürden und Kämpfe. Diese schrecken ihn aber nicht ab. Im Gegenteil: Sie gehören für ihn zu den schönsten Aspekten im Tennis. «Ich mag es, wenn ich kämpfen muss und es eng wird. Es ist interessant zu sehen, wie man in solchen Situationen reagiert.» Und für den Rest ist es interessant zu sehen, wie es mit ihm noch so weiter geht.