von Florian Wüstholz (Text und Bild, erschienen im inside 2018)
Es ist ein strahlend blauer Himmel im August 2017 in Prostějov, Tschechien. Ein paar wenige Zuschauerinnen und Zuschauer sitzen auf der Tribüne der Tennisarena und fiebern mit. Auf dem Spiel steht der U14-Titel in der Teamweltmeisterschaft. An der Seitenlinie sitzt Michael Lammer. Sein Blick wandert von links nach rechts, stets dem gelben Filzball folgend. Er trainiert die Schweizer U14 Auswahl und seine beiden Schützlinge Jérôme Kym und Yarin Aebi kämpfen gerade im alles entscheidenden Doppel. Auf der anderen Seite des Netzes stehen zwei junge Spanier mit dem gleichen Ziel vor Augen.
In so einem Moment ist es schwierig, bei sich und der Sache zu bleiben. Doch Kym und Aebi wissen: Jetzt findet alles im Kopf statt. Das hat ihnen Lammer schon vor dem Final eingetrichtert. Denn «wer tougher ist, wird gewinnen», meint Kym, der im Einzel vorlegen konnte.
Und irgendwann ist der erhoffte Moment da. Die Spanier sehen sich im zweiten Satz mit einem Break- und gleichzeitigen Matchball für die Schweiz konfrontiert. Kurz besprechen sie die Taktik, während sich Kym auf der anderen Seite auf den Return vorbereitet. Wie eine Rakete donnert der Service übers Netz, Kym streckt sich und bringt mit einer satten Rückhand den Ball zurück – so gut, dass es ein Winner wird.
Kaum segelt der Ball am Racket des Spaniers vorbei lässt sich Kym erleichtert und glücklich auf den Rücken fallen. Er reckt die Arme in die Höhe und sein Freund und Mitstreiter Aebi eilt zu ihm, umarmt ihn und die beiden versinken im Triumph. Es ist das erste Mal, dass die Schweiz die Weltmeisterschaft gewinnt.
Am Jurahang in Biel hängen die Wolken tief. Immer wieder drückt die Sonne durch und zeichnet einen Regenbogen an den Himmel. Dann zieht wieder der Wind auf und bläst den Nieselregen an die Fenster des Nationalen Leistungszentrums von Swiss Tennis.
Seit eineinhalb Jahren ist der 15-jährige Jérôme Kym hier zuhause. Sein persönliches Reich ist ein einfaches Zimmer mit Dusche und WC. Jeden Abend nach dem gemeinsamen Nachtessen lässt er sich hier erschöpft auf die weiche Matratze fallen. An einem kleinen Tisch kann er Hausaufgaben erledigen und vom Balkon hat er Ausblick auf die Sandplätze, die im Winter noch trist daliegen. Doch schon bald wird hier wieder rege trainiert.
Jeden Morgen steht er um sechs Uhr auf, isst Frühstück und düst nach Biel in die Schule. Noch bevor der Morgen um ist, steht vor dem Mittagessen die erste Trainingseinheit an. «Inklusive Konditionstraining trainiere ich vielleicht 17 oder 18 Stunden in der Woche», rechnet der Youngster aus Möhlin im Fricktal vor. Ein stattliches Pensum, wenn man die schulische Doppelbelastung in Betracht zieht. Dass er die Schule erfolgreich abschliessen muss und will, ist für den Neuntklässler klar. Doch sein Leben gilt dem Tennis: «Ich möchte Tennisprofi werden.»
«Wer tougher ist, wird gewinnen.»
Wenige Schweizerinnen und Schweizer haben die Chance, sich auf der ATP oder der WTA Tour zu etablieren und damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Konkurrenz ist riesig. «Pro Jahr gibt es weltweit vielleicht zwei bis drei neue Spieler in der Top 100», erklärt Tom Simmen. Er arbeitet bei Swiss Tennis in der Abteilung Spitzensport und spielt mit Kym in der Nationalliga C für den Tennis Sporting Club Bern Interclub.
Ist es da nicht illusorisch, voll auf den Sport zu setzen? Geschichten von vielversprechenden Mädchen und Jungen, die auf halbem Weg umkehren mussten, gibt es leider zuhauf. Doch Kym hat gute Voraussetzungen. «Jérôme ist unglaublich weit für sein Alter», staunt deshalb auch Simmen. Es braucht die richtige Kombination, um überhaupt eine Chance zu haben. «Mit Technik und Talent alleine geht es irgendwann nicht mehr weiter», weiss auch Simmen. Kampfgeist, gute spielerische Entwicklung, Körpergrösse, ein unterstützendes familiäres Umfeld, psychologische Stabilität und nicht zuletzt auch Geld sind mindestens so wichtig.
Und trotzdem: Wer Kym auf dem Platz und beim Krafttraining zuschaut, kann die Hoffnung nachvollziehen. Nicht nur seine Grösse ist für sein Alter erstaunlich. Bereits mit zarten 15 Jahren überragt er mit seinen 189 Zentimetern die meisten Erwachsenen in seinem Umfeld. Im Training zieht er sein Regime streng und diszipliniert durch. Er wirft mit Medizinbällen um sich, balanciert auf Stangen, sprintet und stemmt Gewichte. Und trotz der ganzen Tortur leuchten seine braunen Augen voller Zielstrebigkeit. Wenn sein Konditionstrainer ihm Tipps gibt und Fehler aufzeigt, nennt er ihn liebevoll «Geronimo» – genau wie der legendäre Apachen-Häuptling.
Kym sitzt nervös auf dem schwarzen Sofa. Seine muskulösen Arme sind verschränkt und beim Überlegen nimmt er die goldene Halskette zwischen die Lippen. Vielleicht wäre er jetzt lieber in der Player’s Lounge auf einem der grossen Sitzsäcke, um mit seinen Freunden zu plaudern oder eine Partie FIFA zu zocken. Seine Haare sind auf den Seiten kurz geschnitten, oben frech aufgestellt. Das macht ihn noch einmal grösser und imposanter.
Nach dem Triumph in Tschechien galt es erst einmal, wieder in die Normalität zurück zukehren. Denn das Jahr 2018 ist in seinem Programm ein Zwischenjahr. «Ich möchte in der Schweiz Punkte sammeln und weiter im Ranking steigen. Auch auf der ITF Tour will ich aufsteigen, damit ich im nächsten Jahr an den Junioren Grand Slams spielen kann», gibt er den Plan durch. Momentan belegt er die Nummer 82 im Schweizer Ranking. International liegt er an 832. Stelle.
«Im nächsten Jahr will ich an den Junioren Grand Slams spielen.»
Doch das Leben hält sich manchmal nicht an geplante Normalität. Und wer im Flow ist, reiht scheinbar mühelos Erfolg an Erfolg. So auch an den Schweizer U16-Meisterschaften Anfang Januar. Nach zwei eher einfachen Siegen steht Kym plötzlich gegen den an Nummer 2 gesetzten Leandro Riedi im Halbfinal. «Ich war müde und wollte einfach das Beste herausholen.» Das Beste war in diesem Fall ein Sieg in zwei Sätzen und ein Platz im Final gegen den um fast 30 Plätze besser klassierten Jeffrey Von der Schulenburg. Zu verlieren hat er in diesem Momentnichts mehr. Denn er meint, er sei gar nicht mit dem Sieg als Ziel ins Turnier gegangen. Die beiden Jungs kämpfen drei lange Sätze auf müden Beinen und mit schweren Armen um den Titel. Doch am Schluss macht Kym «den Sack zu», wie er es formuliert, und darf sich neu Schweizer Meister nennen.
Nach dem Konditionstraining geht es auf den Platz. Nationaltrainer Urs Walter lässt Kym und drei weitere Jungs einservieren. Mit Kraft und Präzision hämmern sie die Bälle durch die Halle. An Motivation und positiver Energie mangelt es hier nicht. Auf dem Platz nebenan absolviert Timea Bacsinszky seit Stunden ihr Aufbautraining. Und wer den Weg zum Haupteingang abschreitet, kommt an Zitaten von Tennisgrössen aus aller Welt vorbei.
Auch Roger Federer, der selbst mit 13 Jahren ins Leistungszentrum nach Ecublens am Genfersee zog, war schon zu Besuch. «Das gab mir schon einen Motivationsschub», gesteht Kym.
Wenn er sich mit einem Spieler vergleichen müsste, fällt jedoch ein anderer Name: Juan Martín del Potro, der Turm von Tandil. Zwar fehlen ihm noch ein paar Zentimeter um grössenmässig aufzuschliessen, doch schon jetzt teilt er dessen Liebe zur Vorhand. «Meine Stärke ist mein aggressives Spiel», erläutert Kym. Auch dem Spiel am Netz ist er nicht abgeneigt. An der Grundlinie abwarten und auf den Fehler des Gegners warten ist nicht sein Ding. Er erzwingt sein Glück.
Doch wenn das Leben ihm Steine in den Weg legt, nimmt er das erstaunlich gelassen. «Da kannst du nichts daran ändern», meint er sorglos. Letztes Jahr war er zwei Mal leicht verletzt und musste pausieren. Wer seine Ziele so hoch steckt wie Kym, könnte sich von solchen Rückschlägen schnell aus der Bahn werfen lassen. Gleichwohl zeigt sich auch hier die Reife des jungen Talents. «Angst vor Verletzungen habe ich nicht. Ich spiele einfach Tennis.»