Ein Dorf trotzt der Natur

Murgänge, Hochwasser, auftauender Permafrost: Kaum eine Gemeinde in der Schweiz ist offensichtlicher von der Klimakrise betroffen als Guttannen im Berner Oberland. Beobachtungen aus einem Ort, der seine Zukunft selbst bestimmen will.

von Florian Wüstholz (erschienen in Republik, 15.07.2024)

270 Menschen leben im Dorf Guttannen im Berner Oberland, auf 1057 Metern über Meer gelegen am Aufstieg zum Grimselpass. «Im Sommer etwas mehr, im Winter etwas weniger», sagt Veronika Thaler. Zusammen mit ihrer Schwester Marianne Nägeli führt sie den «Bären»; das einzige Hotel und das einzige Restaurant im Dorf.

Guttannen liegt am historischen Säumerweg «Via Sbrinz», über den seit dem späten Mittelalter unter anderem der namens­gebende Hartkäse transportiert wurde. An den Talwänden ragen die steilen Hänge fast zweitausend Meter in die Höhe. Sie sind wie gemacht für Lawinen.

Schaut man sich die kantonale Gefahrenkarte an, liegt Guttannen auf einem gelben Flecken mit «geringer Gefährdung». Rund um das Dorf wird es auf der Karte blau – «mittlere Gefährdung» – oder rot – «erhebliche Gefährdung». Intelligente Raumplanung hätten die Guttanner schon gemacht, «bevor es Gefahren­karten gab», sagt Daniel Bürki im Restaurant Bären. Er ist Präsident der Schwellen­korporation Guttannen, die für den Hochwasser­schutz zuständig ist.

Im Lawinenwinter 1999 kamen die Schnee­massen trotzdem verdammt nahe an die Häuser ran. Mitgerissene Baumstämme und Erdreich wurden bis vor die Haustüren getragen. 10 Kühe und 25 Hühner wurden begraben, Hochspannungs­leitungen wie Zündhölzer abgeknickt. An manchen Orten lag die Kantons­strasse – als einzige Verbindung mit Meiringen der Lebensnerv des Dorfes – unter 6 Metern Schnee begraben. Drei Wochen lang war Guttannen von der Umwelt abgeschnitten.

Immer mehr «Guffer»

Doch heute sind Lawinen nicht mehr das vordringlichste Thema.

Sondern zum Beispiel einer der grössten Murgänge der Alpen. Im August 2005 regnete es tagelang in Strömen. Oben am Homad­gletscher füllte sich ein kleiner See, weil das Wasser nicht mehr richtig abfliessen konnte. Irgendwann brach das Wasser aus, rauschte in den Rotlouwi­graben, riss Geröll und Erdreich mit. Ein paar hundert Meter oberhalb des Dorfes schüttete der Murgang die Kantons­strasse zu – und das Flussbett der Aare gleich mit. Diese fand einen neuen Weg ins Tal. Er ging mitten durchs Dorf. Auch die Kirche wurde nicht verschont. «Die Psalmen­bücher schwammen durch die Hauptstrasse», erinnert sich Marianne Nägeli.

Vier Jahre später begann es auch unterhalb des Dorfes im Spreitlouwi­graben zu «rumoren», wie die Leute hier sagen. Der Permafrost am 3277 Meter hohen Ritzlihoren war jeden Sommer etwas mehr aufgetaut. Im gewaltigen Kessel unterhalb des Gipfels hatte sich Geröll angesammelt, das aus den Flanken gebröckelt war. Bei starkem Niederschlag wurde es von den Wasser­massen mitgerissen und ergoss sich in grossen Murgängen ins Tal. Mindestens 20 davon gab es zwischen 2009 und 2016, sie frassen zwei gewaltige Gräben in den früheren Lawinenschutt­kegel – 25 Meter tief, 80 Meter breit.

Mittlerweile liegen mehr als 1,9 Millionen Kubikmeter «Guffer» im Flussbett der Aare. So nennt Daniel Bürki das Geröll­material. Zum Vergleich: Beim Bergsturz von Brienz im Juni 2023 brachen 1,2 Millionen Kubikmeter Material weg. An manchen Orten liegt das Flussbett heute 15 Meter höher als noch vor wenigen Jahren. Das Geröll sorgt dafür, dass sich der Fluss fast jedes Jahr einen neuen Weg suchen muss.

Anfangs habe man sich angesichts der Murgänge vor allem Sorgen gemacht um die Galerie der Kantonsstrasse – die Überdachung, die dem Schutz vor Lawinen dient – und um die internationale Gasleitung der Transitgas AG, die unter dem Graben hindurchführt. So erinnert sich Nils Hählen, der damals beim kantonalen Tiefbauamt daran arbeitete, ein Frühwarn­system aufzubauen, und heute die Abteilung Naturgefahren des Kantons Bern leitet. «Aber irgendwann haben wir gemerkt, dass es auch mit den Gebäuden ein Problem geben könnte, wenn es so weitergeht.»

Im Gespräch in Bern erklärt er die Zusammen­hänge, die überall im Kanton ähnlich seien. «Wir beobachten im Berner Oberland, dass in den Gebirgs­bächen viel mehr Geschiebe transportiert wird als noch vor 20 Jahren.» Das liege am Abschmelzen der Gletscher, wodurch viel leicht mobilisierbares Material freigegeben werde. Aber auch am Auftauen des Permafrosts. Und an den intensiveren Niederschlägen, die mehr Material mobilisieren könnten. «Alles Faktoren, die unmittelbar mit dem Klimawandel zusammen­hängen», sagt Hählen.

2016 veröffentlichte die Regional­konferenz Oberland-Ost in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Umwelt die Klima­adaptions­strategie Grimselgebiet. «Aufgrund des Klimawandels akzentuiert sich die Natur­gefahren­situation zunehmend und wird nun auch für die Sommer­monate zum Thema», steht in deren Einleitung. Sturz- und Rutsch­prozesse, Murgänge und Hochwasser würden häufiger und heftiger.

«Das bisher behäbige System rund um uns gerät in Bewegung», sagt Daniel Bürki.

2011 mussten im Spreitlouwi­graben als Folge der Murgänge ein Wohnhaus und ein Stall aufgegeben werden. Das Geschiebe und die Aare waren zu nahe gekommen. Auch weitere Wohnhäuser waren bedroht.

2013 wurde gar diskutiert, ob man den ganzen Dorfteil, der passabwärts links der Aare liegt, wegen der andauernden Murgänge aufgeben und die Leute umsiedeln müsse. Hier leben rund 60 Menschen. Studien schätzten die Wahrscheinlichkeit, dort in den nächsten 25 Jahren von den Folgen der Murgänge betroffen zu sein, schliesslich auf wenige Prozent ein.

Für andere bedrohte Häuser dagegen resultierte eine Wahrscheinlichkeit zwischen 60 und 80 Prozent. Und die Prognosen bewahrheiten sich. Anfang 2024 wurde für ein Wohnhaus und einen Stall ein Nutzungs­verbot ausgesprochen. Das Ehepaar, das dort lebte, zog nach Jahren der Unsicherheit in eine Nachbars­gemeinde. «Das sind die ersten Klima­flüchtlinge der Schweiz», sagt Lehrer Urs Zuberbühler, der seit über 25 Jahren mit seiner Frau die Dorfschule führt. Er weiss, dass das etwas pathetisch klingt. Aber er meint es ernst.

Die Alpen gestalten

In Guttannen will man nicht nur die Gefahr in den Fokus nehmen. Sondern auch die Chancen. 2017 wurde der Verein «Guttannen bewegt» gegründet, der ein «umfassendes Verständnis für den Hintergrund des Wandels» fördern will, wie Vorstands­mitglied Daniel Bürki sagt. «Guttannen soll zu einem Ort werden, an dem die Zukunft der Alpen gestaltet wird.»

Beim ersten Besuch der Republik in Guttannen Anfang März schneit es. Im Gemeindehaus will Gemeinde­präsident Werner Schläppi zuerst einmal herausspüren, was die zwei Journalisten aus der Stadt hier oben wollen. Eine weitere Geschichte über das vermeintliche Katastrophen­dorf würde kaum helfen, das Image des Dorfes zu verbessern und die Abwanderung aus diesem zu bremsen.

Als 2013 eine Umsiedelung Thema war, produzierte das RTS einen dramatisch aufgemachten Beitrag mit dem Titel «Débâcle dans les Alpes». Mit dem Anfang Jahr ausgesprochenen Nutzungs­verbot für Gebäude ist die Umsiedelung nun plötzlich wieder ein Thema – just in dem Jahr, als endlich wieder drei junge Familien ins Dorf ziehen.

«Als ob man hier nicht leben könnte», sagt Schläppi im altehrwürdigen Besprechungs­zimmer. «Ich mag diese Darstellung in den Medien gar nicht.» Auch wenn die Kantons­strasse ab und zu gesperrt sei – «da wird niemand mehr nervös» –, lasse es sich in Guttannen bestens leben. Das Dorf liege mitten in schönster Natur, der Betrieb der Schule sei vorerst gesichert, sogar den Dorfladen samt Postdienst­leistungen habe man jüngst retten können. Im Winter gebe es nichts Schöneres, als bei Vollmond über die Langlauf­loipe zu gleiten.

Und in Guttannen stecke man nicht einfach den Kopf in den Sand. «Wir sind keine engstirnigen Bergler», sagt Schläppi. Die Guttanner seien «offene Menschen». Das habe viel mit der Säumerei zu tun, dem historischen Transport von Waren auf Saumtieren, aber auch mit den Kraftwerken Oberhasli, die unter anderem die Speicherseen am Grimselpass betreiben. «Da sind wir schon immer in Kontakt mit Menschen von aussen gekommen», sagt Schläppi.

Der Grüne von der Goldküste

Etwas über den Umgang des Dorfes mit der Klimakrise erzählen kann auch Lehrer Urs Zuberbühler. Seine Familie ist die einzige im Dorf, die kein Auto besitzt. Er sitzt im Vorstand der Grünen Berner Oberland. Es ist, weit hinter der SVP, die zweitstärkste Partei im Dorf. «Ich bin vor über 25 Jahren wie ein bunter Hund von der Goldküste nach Guttannen gekommen», sagt der gebürtige Zürcher Zuberbühler im Gespräch Mitte Mai.

Natürlich trieben auch ihn der Klimawandel und die Veränderungen im Dorf um. «Wir haben das vor der Haustür», sagt er. «Es rumpelt und donnert. Wenn der Rotlouwi­graben kommt, hört man es erst rumoren. Und dann riecht man es. Ein erdiger Geruch.»

Von den Fenstern des Schulzimmers haben die gerade noch 14 Schüler einen direkten Blick auf den Spreitlouwi­graben. Schon früh wird man sich hier der Natur­gefahren bewusst. «Jedes Kind geht mindestens einmal mit dem Fachmann an den Graben und lernt etwas über die Schutz­massnahmen», sagt Zuberbühler.

Und da gibt es den Themenweg, den der Verein «Guttannen bewegt» realisiert hat, bei dem Zuberbühler auch dabei ist. An 28 quer durchs Dorf verteilten Stationen erfahren Interessierte, wie der Ort «mit Wetter und Klima und deren Veränderungen» umgeht. Der Rundgang dauert dreieinhalb Stunden. Die Botschaft soll gemäss Gemeinde­präsident Schläppi sein: «Dass wir die Berge und die Natur gerne haben, auch wenn sie manchmal rau und unwirtlich, ja sogar gefährlich sind.»

Lehrer Zuberbühler sieht es etwas anders: Die Beiträge an den Stationen seien «sehr vorsichtig und wenig politisch». Es gehe «viel ums Wetter und wenig ums Klima». Er selbst habe versucht, in den Audio­beiträgen ein paar politische Akzente zu setzen. Aber er bezweifelt, dass viele den Link zwischen Murgängen und Klimaschutz machen.

Das sehe man auch an den Abstimmungs­resultaten. Obwohl der Verein Alpeninitiative im April 2021 die Kampagne zum CO2-Gesetz mitten in Guttannen lanciert hat – eingefädelt hatte das Zuberbühler –, wurde das Gesetz in der Gemeinde mit knapp 65 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Auch beim angenommenen Klimagesetz von 2023 sagten 60 Prozent der Guttannerinnen Nein. «Das ist schräg und schwierig zu verstehen», sagt Zuberbühler. «Ich weiss nicht, was punkto Klimawandel noch passieren müsste, damit die Menschen hier auf die Hinterbeine stehen. Leute müssen umziehen, weil die Berge runter­donnern. Wieso ergibt da eins und eins nicht zwei?»

Mit einer «Furzidee» versuchte Zuberbühler vor einigen Jahren, einen Denkanstoss zu setzen. Er kaufte für fast 100’000 Franken ein autarkes Wohnei – die Ecocapsule – und stellte es mitten im Dorf als Minihotel auf. «Das Ei symbolisiert eine Alternative, nutzt nur erneuerbare Energie und ist hochpolitisch», sagt Zuberbühler. «Es ist schräg, futuristisch und steht als Kontrapunkt mitten im Dorf.»

Die Ecocapsule sei gut angekommen. Eine dauerhafte Bewilligung konnte Zuberbühler allerdings nicht erwirken. Für autarke Wohneier sei die Schweizer Gesetz­gebung offenbar noch nicht bereit. Nun ist jeder Besuch bei seiner brach liegenden Ecocapsule immer auch ein «Stich ins Herz».

Mehr Freude bereitet ihm der neue Dorfladen. Tritt man ein, geht das Licht an, beim Kühlschrank wird automatisch eine Jalousie hochgefahren.

Zuberbühler geht durch die Gänge, zeigt Biosalate, vegane Ersatz­produkte und Hafermilch. Im hinteren Teil sind Alkohol und Tabak gelagert, Fisch und Fleisch liegen in der Kühltruhe. «Als wir zur Gründungs­veranstaltung für die Dorfladen-Genossenschaft in den Bären einluden, mussten wir als Erstes klarstellen, dass es auch weiterhin Fleisch, Tabak und Käse zu kaufen gäbe», erinnert er sich. «Die Leute hatten schon etwas Angst, was jetzt mit dem Sortiment passiert, wenn ein paar Körnlipicker den Laden übernehmen.»

Am selben Abend wurden 35 Anteils­scheine verkauft. Mittlerweile sind es 150. «Im Wesentlichen ist jeder Haushalt im Dorf dabei», sagt Zuberbühler. Eine Erfolgsgeschichte.

An der Murgang-Ampel

Bereits jetzt liegt die Erwärmung in den Alpen bei weit über 2 Grad. In den nächsten 50 Jahren rechnet man mit nochmals so viel. Die Intensität der Schnee­schmelze, Hitze­perioden und Stark­niederschläge werden weiter zunehmen.

«Das Dorf ist prädestiniert, dass man sich hier Gedanken über den Klimawandel und über Natur­gefahren macht», sagt Bergführer Alex Schläppi, der mit dem Gemeinde­präsidenten Werner Schläppi nicht direkt verwandt ist. «Hier nimmt man die Natur wahr.» Dass aber allen bewusst ist, wie wichtig und wie bedroht diese Natur ist, das bezweifelt er.

Seit 40 Jahren führt der 64-Jährige Menschen durch die Berge. Aufs Finsteraar­horn, aufs Schreckhorn, aufs Lauteraar­horn – drei Berner Viertausender, die alle in der Gemeinde Guttannen liegen. Aber auch an den Unteraar­gletscher, wo die Schmelze eindrücklich sichtbar wird und ein farbenfrohes Gletschervorfeld entsteht.

Er habe eigentlich eine gute Zeit «breicht» für seinen Beruf, sagt Schläppi. Die Bergübergänge seien meist eingeschneit und sicher, Steinschlag seltener gewesen. Jetzt aber fange es an zu «bösen», sagt er und zählt dann eine ganze Liste von Veränderungen auf, die man allein von dieser kleinen Holzbank aus beobachten könne, auf der er sitzt. Couloirs und Hänge, die früher nie schneefrei waren. Felsstürze, die zunehmen, und der Permafrost, der immer weiter oben wegschmilzt. Die Waldgrenze, die immer weiter rauf wandert. Seit 1961 hat sie sich um bis zu 200 Meter nach oben verschoben. «Im Sommer ist es entweder heiss und trocken, oder dann schüttet es aus Kübeln.»

Für Schläppi wäre es die Aufgabe von Journalisten, der Gesellschaft zu zeigen, was passiert, wenn die Welt immer heisser wird. «Mit einem guten Artikel erreicht ihr mehr Leute als die paar Menschen, die auf dem Themenweg durch Guttannen wandern.»

Heute will Schläppi, der auch für die Überwachungs­anlage im Spreitlouwi­graben zuständig ist, die Sicherheits­systeme einrichten. Sie sorgen dafür, dass bei einem Murgang die Strasse sofort gesperrt wird. Vor dem Winter wird die Vorrichtung jeweils abgebaut, um nicht durch Lawinen beschädigt zu werden. Erst im Hoch- oder Spätsommer ist dann Murgang­saison. Bis dann muss alles bereit sein.

Nun soll ein kleines Überwachungs­haus aus Holz direkt neben dem Graben aufgestellt werden. Es beherbergt nötiges Material und dient zur Not als Unterkunft. Als der Lastwagen gekommen ist, wird das Hüttchen in wenigen Minuten mit Tragseilen auf die Ladefläche gehievt. Dann fährt Schläppi in seinem Auto voraus zum Spreitlouwi­graben.

Mehrere Stahlseile überspannen die beiden tiefen Furchen, wo früher noch Vieh über den Schuttkegel getrieben wurde. An ihnen werden ungefähr 15 Kilogramm schwere Steine aufgehängt. Kommt ein Murgang, reisst es die Steine mit, wodurch ein Alarm ausgelöst wird. Die Ampel an der Kantons­strasse schaltet dann automatisch auf Rot.

«Der Graben illustriert für mich die Veränderungs­prozesse, die schon seit eh und je in der Natur abgehen», sagt Schläppi und zeigt auf die Moränen, auf die Wälder, auf die Felshänge und Gipfel: «Über Jahrhunderte ist in diesem Tal schon so viel passiert. Wir Menschen haben ein sehr kurzfristiges Denken.»

Mit einer Verharmlosung des Klimawandels hat diese Bemerkung nichts zu tun. Schläppi verweist sofort auf das bedrohliche Tempo der Erwärmung und auf die menschen­gemachten Veränderungen. «Die Zukunft macht mir schon etwas Angst, wenn wir weiter so wirtschaften.»

«Man ist bereit. Oder man ist es nicht»

Im Flussbett der Aare herrscht Hochbetrieb. Bagger schaufeln, Kipplaster karren Geröll herum, Firmenautos fahren über die Piste, die mitten ins Flussbett gebaut wurde, um die Baustelle schneller zu erreichen. Alles ist voll mit zersplittertem Grimselgranit.

Seit den Murgängen arbeitet die Transitgas AG daran, ihre Gasleitungen zu schützen. 2010 verlegte das Unternehmen die Leitung, die ursprünglich unter dem Graben hindurchführte, auf die andere Seite der Aare. Kostenpunkt: 20 Millionen Franken. Seither geht es darum, diese mit dicken Beton­elementen besser vor dem Geschiebe zu schützen.

Auch für die Kantonsstrasse braucht es in naher Zukunft eine neue Lösung. Die Betondecke der Galerie ragt aus dem Graben heraus. Wenn Brocken so gross wie Einfamilien­häuser herunter­donnern, ist die Stabilität kaum gewährleistet. Bereits vor einigen Jahren hat das Tiefbauamt deswegen zwei Zugangs­strassen an den Graben gebaut, damit im Notfall eine provisorische Verbindung erstellt werden kann, um das Dorf zu versorgen.

Es sind lauter Versuche, sich an eine rasant wandelnde Umgebung anzupassen. «Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie diese Landschaft in 50 oder 100 Jahren aussehen wird», sagt Nils Hählen von der Abteilung Naturgefahren. «Es ist ein extrem dynamischer Prozess, der nie ganz abgeschlossen ist.»

Und so stellt sich bei jeder Anpassung auch die Frage, wie lange sie sich bewähren wird. Und, beängstigender: Wie lange es überhaupt noch Möglichkeiten gibt, etwas anzupassen.

Bei den Häusern an der rechten Aareseite werden diese immer weniger. Die 2011 verlassenen Gebäude sind bereits verschwunden. Weiter unten fehlt ein Stück der Waldstrasse. Es wurde von der Aare mitgenommen – nun führt der Wanderweg über einen Umweg nach Flesch und Leen.

Wenige kennen sich mit den Naturgefahren im Tal so gut aus wie Daniel Bürki, das Vorstands­mitglied von «Guttannen bewegt», der 1989 «der Liebe wegen» nach Guttannen zog. Seit 30 Jahren arbeitet er bei den Kraftwerken Oberhasli, wo er für den Unterhalt der Anlagen zuständig ist. «Da habe ich natürlich viel mit Natur­gefahren zu tun», sagt er.

Warum setzt sich der Verein nicht etwas offensiver mit dem Klimawandel auseinander? «Das Wort polarisiert halt», verteidigt er sich. Und viele im Dorf hätten halt auch den Eindruck, dass sich die Veränderungen in der Natur eh nicht aufhalten liessen. «Ich habe da eine andere Haltung.»

Er setzt sich dafür ein, dass Wissenschaft, Politik und Bevölkerung zusammen­spannen und die Probleme angehen. Mit dem Verein will er nicht nur Guttannen zum Thema machen, sondern auf die Veränderungen in den Alpen aufmerksam machen. In Guttannen lasse sich zeigen, wie trotz steigender Natur­gefahren ein lebendiges Dorf erhalten bleiben könne, sagt Bürki.

«Die Leute sehnen sich nach den Bergen. Und wenn man sich verändern muss, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man ist bereit. Oder man ist es nicht.»

Beim Abschlussgespräch mit Gemeinde­präsident Werner Schläppi während der Znünipause im Bären liegen dick mit Schinken belegte Sandwiches bereit, der Kaffee kommt sofort.

Tags zuvor hat sein Sohn Beat am Dorfrand durch die Schreinerei des Vaters geführt, die er bald übernehmen wird. Obwohl er als Bergsteiger die gleichen Veränderungen in den Bergen wahrnimmt wie Bergführer Schläppi, spricht er weniger gerne über den Klimawandel. Die Temperaturen gingen doch sowieso immer hoch und runter, sagt er – der Mensch sei da nur ein kleines Rädchen im System.

Vater Werner bezeichnet sich diesbezüglich als «zwiegespalten». Es sei zwar richtig, dass die Schweiz Massnahmen gegen den Klimawandel ergreife: zum Beispiel mit einer unabhängigeren Energie­versorgung und grossflächiger Dekarbonisierung. «Aber unser Einfluss ist sehr begrenzt», sagt er.

Das Scheitern der Klima­abstimmungen im Dorf kann er einfach erklären. «Wieso sollten wir uns einschränken mit Verboten, wenn wir jeden Tag im Dorf das Gegenteil sehen?» Die Passfahrten mit Ferraris, Lamborghinis und Harley Davidsons seien «reiner Luxus», den es nicht brauche. «Da frage ich mich manchmal schon, warum wir jetzt vorausgehen sollen.»

Zum Abschied kommt doch nochmals Misstrauen zum Ausdruck. «Mich nimmt wunder, was die Message in eurer Reportage ist», sagt Schläppi. «Mir ist einfach wichtig, dass kein Welt­untergangs­szenario herauf­beschwört wird. Wir gehen hier mit den Veränderungen proaktiv um.»